Manuskripte 2025

Kirchentag in Hannover

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Sperrfrist
Fr, 02. Mai 2025, 20.00 Uhr

Fr
20.00–22.00
Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen | Podium
Sexarbeit zwischen Anerkennung und Kriminalisierung
Was macht eine gerechte Prostitutionspolitik aus?
Sonja Dolinsek, Historikerin, Magdeburg

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

als ich den Titel dieses Podiums gelesen habe, habe ich mich gefreut. Das ist eine wichtige Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Es ist eine Frage, die zum Nachdenken anregt, eine Frage, die auf die Gestaltung von Zukunft abzielt. Das ist in Zeiten wie diesen besonders wichtig: Dass wir uns unserer Fähigkeit vergewissern, nicht nur passive Zuschauer weltpolitischer Umwälzungen zu sein, sondern dass wir auch mitdenken und gestalten können.

Was also heißt das bei unserem Thema: Gerechte Prostitutionspolitik? Um mich einer Antwort anzunähern, möchte ich zuerst der Frage nachgehen: „Was heißt eigentlich „gerecht"?“ Damit betrachte ich dann die „Prostitutionspolitik“, also den politischen Umgang mit Prostitution. Im Vordergrund stehen dabei ausgewählte Beispiele des Umgangs mit Prostitution in Deutschland, wo Sexarbeit überwiegend legal und reguliert ist, und in Ländern mit einem Verbot nach dem Nordischen Vorbild, dem sogenannten Nordischen Modell.

Letzteres wird seit einigen Jahren in der politischen Debatte beworben. Heute werde ich dieses Modell vor allem kritisch hinterfragen.

Ein Hinweis zur Sprache: Inhaltlich betrachte ich Prostitution und Sexarbeit als Synonyme, wobei Prostitution moralisch negativer konnotiert ist und Sexarbeit neutraler und analytisch breiter gefasst ist.

 

Zum Begriff der Gerechtigkeit

Ich beginne damit, einige Gerechtigkeitskonzepte nachzuzeichnen, die uns zur Verfügung stehen. Das ist aufgrund der knappen Zeit natürlich holzschnittartig.

John Rawls' Theorie sieht Gerechtigkeit als Fairness. Gerechte Institutionen sind jene, denen alle unter dem sogenannten „Schleier des Nichtwissens“ zustimmen könnten – ein sehr wirkungsvolles Gedankenexperiment. Eine gerechte Prostitutionspolitik wäre also eine, der wir alle zustimmen würden, ohne zu wissen, welche soziale Rolle und Stellung wir tatsächlich einnehmen. Und ohne zu wissen, welche soziale Rolle und Stellung, die uns nahestehenden Menschen einnehmen. Sie können sich also bei den verschiedenen Aspekten, die ich heute beleuchte, fragen: Welchen Regelungen würden Sie hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ – also aus einer unparteiischen Position heraus – zustimmen? Wenn sie also nicht wüssten, ob Sie Sexarbeitende, Kundschaft, Vermieter*in, Polizist*in, Sozialarbeiter*in oder zu den unbeteiligten Dritten gehören?

Mit Jürgen Habermas kommt die Dimension der politischen Partizipation und der Demokratie hinzu: Gerechte Normen entstehen durch einen demokratischen Diskurs mit den Betroffenen. Für die Prostitutionspolitik bedeutet das, dass die Vielfalt der Akteur*innen im Bereich der Sexarbeit, insbesondere aber die Sexarbeitenden selbst, als legitime politische Akteur*innen anerkannt wird.

Mit der Anerkennungstheorie von Axel Honneth und Nancy Fraser sehen wir, dass Gerechtigkeit auch soziale Anerkennung und Respekt erfordert. Für Sexarbeitende würde das bedeuten, dass sie als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder mit unveräußerlichen Rechten anerkannt werden, dass sie nicht durch Stigmatisierung abgewertet werden. Es geht hier explizit um die Anerkennung der Sexarbeitenden als Sexarbeitende – also nicht erst, wenn sie die Tätigkeit aufgegeben haben.

Der Befähigungsansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen fragt nach den realen Möglichkeiten, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Sie fragen nach der sogenannten „effektiven Freiheit“. Eine gerechte Sexarbeitspolitik müsste die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen erweitern. Sie würde auch die materiellen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen, insbesondere die Armut, die für zahlreiche Menschen der Hintergrund ihrer Entscheidung für die Sexarbeit ist.

Letztlich geht es hier, wie in anderen Gerechtigkeitsvorstellungen auch, nicht nur um Prostitutionspolitik, sondern um Sozialpolitik. Darum, wie wir mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft um gehen. Und damit auch um eine gerechte Gestaltung unserer Gesellschaft insgesamt.

Mit diesen Perspektiven im Blick wende ich mich nun einigen, sicher nicht allen Dimensionen der Prostitutionspolitik zu. Damit möchte ich Ihnen auch aufzeigen, wie vielschichtig und komplex das Thema ist.

 

1. Sexarbeitende: Von der Kriminalisierung zur Anerkennung

Beginnen wir mit den Menschen, die Sex gegen Geld anbieten. Historisch betrachtet wurden diese Personen fast überall kriminalisiert und ausgegrenzt. Man betrachtete sie als „gefallene Frauen“. Als moralisch verwerflich. Als Gefahr für die öffentliche Ordnung und Gesundheit.

Diese Kriminalisierung erscheint aus heutiger Sicht als eine fundamentale Ungerechtigkeit. Die Bestrafung drängte Frauen noch weiter an den Rand der Gesellschaft und legitimierte das bestehende Stigma. Die disziplinierende Funktion für alle Frauen kann bis heute in Beleidigungen als „Schlampe“ oder „Hure“ beobachtet werden.

Die Kriminalisierung ist in zahlreichen Ländern noch immer Praxis. Aus menschenrechtlicher und feministischer Sicht ist sie jedoch nicht zu begründen – nicht nur weil Kriminalisierung Sexarbeitende anfälliger für Straftaten, Gewalt und Ausbeutung macht, sondern auch weil Kriminalisierung an sich ungerecht ist. Weil Sexarbeitende erwachsene Menschen sind, die selbstbestimmt über ihre Körper verfügen können sollen.

Schon deshalb ist eine Entkriminalisierung ein notwendiger erster Schritt. Damit haben wir aber noch keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist erst erreicht, wenn Sexarbeitende die gleichen Rechte wie andere Bürger*innen haben: Zugang zu Arbeitsrechten, sozialer Sicherung und gesellschaftspolitischer Teilhabe – ohne Sonderregelungen. Denn viele Sexarbeitende lehnen genau solche Sonderregelungen ab, wie die in Deutschland geltende Registrierungs- und Beratungspflicht.

 

2. Die Kundschaft: Bestrafung oder Regulierung?

Eine zweite Dimension betrifft die Kundschaft. Historisch wurden Kunden meist gar nicht reguliert oder in der Praxis seltener bestraft als Sexarbeitende selbst – eine offenkundige Doppelmoral.

Das sogenannte „Nordische Modell“ verfolgt einen anderen Ansatz: Hier werden nicht die Sexarbeitenden, sondern die Kunden kriminalisiert. Auf den ersten Blick scheint dies attraktiv und gerechter. Die Sexarbeitenden, die oft aus Notlagen heraus handeln, werden nicht getroffen. Sondern die privilegierten Kunden. Doch die Grundidee bleibt: Nach wie vor werden erwachsene Menschen, die einvernehmlich sexuelle Handlungen vollziehen, dafür bestraft.

Noch mehr: Dieses Nordische Modell, was oft als „Sexkaufverbot“ beschrieben wird, ist aus Sicht der Sexarbeitenden ein Vergütungsverbot – ein Verbot, für Dienstleistungen bezahlt zu werden. Damit geht der Verlust aller Rechte einher, die Dienstleistende gegenüber ihrer Kundschaft haben. Die Kriminalisierung der Kundschaft treibt zudem die gesamte Branche in die Illegalität. Sexarbeitende müssen ihre Kunden vor Strafverfolgung schützen und begeben sich dafür selbst in Gefahr. Die Kunden, die trotz Kriminalisierung bleiben, sind vor allem die Respektlosen und Gewaltbereiten. Straßensexarbeiterinnen berichten von aggressiverem Verhalten und gefährlicheren Praktiken – bei sinkenden Preisen.

Eine gerechte Prostitutionspolitik kriminalisiert weder Sexarbeitende noch ihre Kundschaft, sondern schafft regulierte Rahmenbedingungen, in denen die Rechte aller gewahrt werden.

 

3. Arbeitsorte: Die räumliche Dimension der Sexarbeit

Wo Sexarbeit stattfindet, ist entscheidend für die Sicherheit und Arbeitsbedingungen. In einem regulierten System können Arbeitsorte bestimmten Standards unterliegen. Dazu gehört Sicherheit, Hygiene und faire Arbeitsbedingungen.

Wo Arbeitsorte verboten sind, z.B. durch ein Bordellverbot, ist auch eine Regulierung nicht möglich – sprich es gibt keine Mindeststandards. Das gilt auch im Nordischen Modell.

Sexarbeitende treffen in diesen Ländern ihre Kundschaft im Hotel, in AirBnBs, bei Kunden zu Hause oder in illegal angemieteten Räumen, die oft 3-4 Mal so teuer sind als eine Miete in Deutschland. In Städten, wie Paris, werden auch größere Parks, wie der Bois de Boulogne zu einem Arbeitsort. Die Arbeit findet dann isoliert – ohne Kontakt zu Kolleg*innen – statt, was ein Sicherheitsrisiko darstellt. Im Pariser Bois de Boulogne finden regelmäßig gewaltsame Übergriffe gegen Sexarbeitende statt – von Diebstahl bis zum Mord. – 

Auch in Deutschland ist Sexarbeit nicht überall legal. Trotz des Narrativs der grenzenlosen Legalität ist sie in zahlreichen Städten in Sperrgebieten sowie in zahlreichen Kommunen unter 50.000 Einwohner*innen verboten. Der § 184f StGB „Verbotene Prostitution" betrifft jährlich etwa 500-600 Personen. Sperrbezirke drängen Sexarbeitende außerdem dazu, in einigen wenigen Straßen und Betrieben zu arbeiten, auch wenn dies nicht ideale Arbeitsbedingungen sind.

In München zum Beispiel ist fast das gesamte Stadtgebiet als Sperrgebiet ausgewiesen. Die Polizei setzt dieses Verbot aktiv durch, teilweise sogar mit Lockvögeln. Agents Provocateurs, sorgen für Strafen für Sexarbeitende. Ist das gerecht? Ich halte es nicht nur für eine Verschwendung von Steuergeldern und bereits knappen Polizeiressourcen, sondern insbesondere für die bestraften Sexarbeitenden ungerecht.

Eine gerechte Prostitutionspolitik ermöglicht sichere und vielfältige Arbeitsorte– integriert in das städtische und gesellschaftliche Leben, nicht stigmatisiert und ausgegrenzt. Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie gute Arbeitsbedingungen in der Sexarbeit aussehen können.

Denn nur dann können wir die Ausbeutung und den Menschenhandel in diesem Bereich reduzieren.

 

4. Die Rolle der Polizei: Schutz oder Kontrolle?

Historisch war die Polizei primär mit der Überwachung, Kontrolle und Verhaftung von Sexarbeitenden betraut. Sie wurden als Gefahr für die Gesellschaft behandelt, registriert und reglementiert. Auch heute noch registriert die Polizei Sexarbeitende vielerorts, auch in Deutschland, in eigenen Datenbanken – auch wenn diese Personen nie kriminell in Erscheinung getreten sind. Eine solche Praxis ist menschenrechtlich problematisch.

Das Nordische Modell offenbart auch an dieser Stelle seine Widersprüchlichkeit: Während es vorgibt, Sexarbeitende zu entkriminalisieren, überwacht sie die Polizei mit Telefonüberwachungen, um potenzielle Kunden zu identifizieren. Diese Methoden dürfen in Deutschland nur bei schwerwiegenden Straftaten eingesetzt werden. In Schweden allerdings auch dann, wenn man gar keine Straftat begeht. Dies steht in klarem Widerspruch zur angeblich „schützenden“ Absicht des Modells. Denn es sind die angeblich zu Schützenden, die bespitzelt werden.

Gleichzeitig versagt die Polizei im Nordischen Modell oft bei ihrer eigentlichen Schutzaufgabe. Es gibt zahlreiche Berichte, wonach Sexarbeitende, die Opfer von Vergewaltigung wurden, bei der Polizei abgewiesen werden – mit der Begründung, solche Übergriffe seien „Teil des Berufs“. Manche geraten sogar selbst in den Fokus der Strafverfolgung. Wenn Sexarbeitende gemeinsam tätig sind und sich mit der gemeinsamen Anmietung einer Wohnung oder Weitergabe von Anfragen unterstützen, können sie wegen Zuhälterei kriminalisiert werden. Migrant*innen auch aus EU-Ländern werden nach wie vor wegen Sexarbeit abgeschoben. Ein Recht auf Unterstützung haben Migrant*innen im Nordischen Modell nicht. Das zeigt: Auch im Nordischen Modell werden Sexarbeitende nach wie vor diskriminiert.

Eine gerechte Prostitutionspolitik definiert die Rolle der Polizei fundamental anders: nicht als Kontrollinstanz, sondern als Schutzgarant bei Straftaten und Übergriffen.

 

5. Gesundheit: Von der Zwangskontrolle zur Selbstbestimmung

Wenden wir uns dem Bereich der Gesundheit zu. Historisch gesehen wurden ausschließlich Sexarbeitende für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden sie auch in Deutschland unter gesundheitliche Überwachung gestellt. Die Zwangsuntersuchungen und -kontrollen, denen sie oft unterzogen wurden, waren nicht nur ineffektiv, sondern auch diskriminierend. Dies wurde zwar schon seit den 19. Jahrhundert kritisiert, aber erst mit dem Auftreten von HIV/AIDS kam es zu einem realen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik. Die Entwicklung ging hin zu progressiven Ansätzen wie Peer-to-Peer-Programme und Schadensminimierung, die sog. „harm reduction“. Sexarbeitende werden als Partner*innen in der Gesundheitsvorsorge anerkannt. Diese wiederum setzt auf anonyme, kostenlose und vertrauliche Angebote.

Außerdem muss die psychosoziale Versorgung von Sexarbeitenden als ein wichtiger Bestandteil einer gerechten Prostitutionspolitik anerkannt werden – dies allerdings, ohne die historische Pathologisierung von Sexarbeitenden fortzuführen. Historisch galten Sexarbeitende aufgrund ihrer Tätigkeit grundsätzlich als psychisch krank. Heute erkennen wir an, dass Sexarbeitende wie jede andere Gruppe Bedarfe an psychischer Versorgung haben, die zwar auch berufsbedingt sein können, aber oft nicht sind.

 

6. Soziale Arbeit: Hilfe ohne Bevormundung

Auch die soziale Arbeit mit Sexarbeitenden hat eine problematische Geschichte. Lange Zeit war sie mit einem Zwangscharakter verbunden und Teil eines Fürsorgesystems. Sexarbeitende wurden Heime und Arbeitshäuser gesteckt – heute würden wir das schlicht Zwangsarbeit nennen.

Ab den 1970er Jahren veränderte sich das Verständnis sozialer Arbeit grundlegend: weg von Zwang und moralischer Bevormundung, hin zu einem respektvolleren Ansatz. Heute versteht sich professionelle soziale Arbeit als Unterstützung ohne Paternalismus, ohne Zwang, orientiert an ethischen Standards der Selbstbestimmung.

In Deutschland bedeutet das: Man unterstützt auch jene, die nicht “aussteigen“ wollen, weil man anerkennt, dass die Probleme von Sexarbeitenden vielschichtig sind.

Im Gegensatz dazu steht das Nordische Modell. Hier wird Hilfe oft nur unter der Bedingung des sofortigen „Ausstiegs“ angeboten. Damit werden alle anderen Beratungsbedarfe für irrelevant erklärt. Letztlich erhalten zahlreiche Sexarbeitende gar keine Unterstützung mehr. Würden wir diesen Ansatz in Deutschland umsetzen, würde das einer massiven Kürzung und Einschränkung von Unterstützungsangeboten gleichkommen. Auch bleiben Migrant*innen im Nordischen Modell aus den Unterstützungsangeboten ausgeschlossen.

Eine gerechte Prostitutionspolitik respektiert bietet Unterstützung auf Augenhöhe und ohne Vorbedingungen.

 

7. Politische Partizipation: Demokratie ernst nehmen

Eine weitere wichtige Dimension betrifft die politische Teilhabe von Sexarbeitenden. In allen Politikfeldern wird die Beteiligung der Betroffenen als demokratisches Grundprinzip betrachtet. Doch im Bereich der Sexarbeit wird dies oft verwehrt.

Ein häufiges Argument gegen die Partizipation von Sexarbeitenden ist das Vorurteil, sie seien durch Traumata in die Sexarbeit gekommen. Sie seien daher nicht als ernstzunehmende politische Akteur*innen zu betrachten. Doch dieses Argument ist anti-demokratisch. Weder das Grundgesetz noch die Menschenrechte unterscheiden Menschen danach, ob sie ein Trauma erlebt haben. Traumaerfahrungen sind weitverbreitet: Verlust von Angehörigen, Krankheit, Unfälle, psychische und körperliche Gewalterfahrungen, Kriegserfahrungen – all das kann traumatisieren. Doch nichts davon nimmt Menschen ihre politische Teilhabefähigkeit. Auch nicht den Sexarbeitenden.

 Oft wird auch die Legitimität der politischen Selbstorganisationen von Sexarbeitenden infrage gestellt. Diese Strategien der Delegitimierung führen viele Scheinargumente ins Feld. Diese sind entweder falsch oder zumindest problematisch. Falsch ist die Behauptung, die Mehrheit der Prostituierten würde unter Zwang arbeiten. Diese Behauptung wurde noch nie empirisch belegt – sie hat also wissenschaftlich gesehen den Status einer Erfindung. Zudem: Auch Sexarbeitende, die ausgebeutet werden und unter Zwang arbeiten, können sprechen. Auch sie sind politische Subjekte. Sie brauchen keinen Vormund. Sie brauchen übrigens auch keine Medien, die immer nur die Geschichte körperlichen Leids hören wollen: Sexarbeitende dürfen weder auf ihre Sexarbeit noch auf Leiderfahrungen reduziert werden und als Unterhaltung im Fernsehen verkauft werden.

Letztlich sehe ich als Historikerin bei diesen Versuchen der Delegitimierung das Wirken der Geschichte von Ausgrenzung, Kontrolle und Entmündigung. Ich sehe das Wirken der Vorstellung, dass Sexarbeitende durch ihre Tätigkeit ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft irgendwie verwirkt hätten. Ich sehe die Vorstellung, dass sie diese erst wiedererlangen, wenn sie die Prostitution aufgeben. Aber Sexarbeitende sind gleichwertige Subjekte und sie sind natürlich auch mit der gleichen unveräußerlichen Würde ausgestattet wie andere Menschen auch. Wer versucht, Sexarbeitende als politische Akteur*innen zu delegitimieren, untergräbt damit auch demokratische Prinzipien.

Eine gerechte Prostitutionspolitik muss Sexarbeitenden das Recht auf politische Mitsprache und Selbstvertretung sichern. Ihre Beteiligung ist nicht nur legitim, sondern Grundvoraussetzung einer funktionierenden Demokratie.

 

8. Armut und Befähigung: Reale Wahlmöglichkeiten schaffen

Die letzte Dimension, die ich ansprechen möchte, betrifft die ökonomische Realität und die Frage nach echten Wahlmöglichkeiten. Gerechtigkeit kann nicht nur formal verstanden werden – sie muss sich in realen Lebenssituationen bewähren. Für Sexarbeit bedeutet das: Menschen müssen die Möglichkeit haben, sicher in diesem Beruf zu arbeiten. Sie müssen auch die reale Option, ihn zu verlassen, wenn sie dies wünschen. Das eine schließt das andere nicht aus.

Viele Menschen arbeiten aus ökonomischen Gründen in der Sexarbeit – nicht immer aus extremer Not, aber häufig mit begrenzten Alternativen. Manche fordern ein Verbot der Sexarbeit aufgrund der wirtschaftlichen Notlage vieler Betroffenen – eine verkürzte Schlussfolgerung. Denn damit zwingt man sie nur in die Lage zurück, aus der sie durch die Sexarbeit entfliehen wollten – oder treibt sie in die Illegalität.

Armut ist außerdem ein strukturelles soziales Problem. Sexarbeit kann eine Reaktion auf diese Armut sein – ein Symptom, nicht die Ursache. Ein gerechter Umgang damit bedeutet, die Ursachen zu bekämpfen: höhere Löhne und bessere soziale Absicherung, bezahlbarer Wohnraum, Bildungschancen ungeachtet der sozialen Herkunft. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und letztlich weltweit.

Eine gerechte Prostitutionspolitik erkennt diese Komplexität an und verzichtet auf Scheinlösungen wie Verbote, die nachweislich gescheitert sind. Der Kampf gegen Armut rechtfertigt keine Verbote – er fordert vielmehr eine gerechte und umfassende Sozialpolitik.

 

Fazit

Ich komme zum Schluss: Eine gerechte Prostitutionspolitik kriminalisiert weder Sexarbeitende noch ihre Kundschaft. Sie schafft proaktiv Rahmenbedingungen, in denen die Rechte aller gewahrt werden. Dazu gehören legale und im Sinne der Sexarbeitenden regulierte Arbeitsorte, Angebote der Gesundheitsversorgung sowie Beratungsangebote, inklusive der Unterstützung beim Berufswechsel, sofern gewünscht. Eine gerechte Prostitutionspolitik schafft sichere und gute Arbeitsbedingungen für jene, die in der Sexarbeit bleiben wollen. Sie schafft auch echte Alternativen für diejenigen, die den Beruf wechseln möchten. Die Polizei hat dabei die Aufgabe, die Sexarbeitenden zu schützen, nicht gegen sie zu arbeiten. Respekt und Anerkennung sind die Grundlage gerechter Prostitutionspolitik. Sie nimmt die Vielfalt und vielleicht auch Widersprüchlichkeit der Stimmen und Erfahrungen von Sexarbeitenden ernst, ohne sie jedoch gegeneinander auszuspielen.

Auf dem Kirchentag 2023 hielt Sophie Schönberger einen Vortrag zum Thema „Krisenfähigkeit der Demokratie“, in dem sie betonte, dass diese – die Demokratie – die „Bereitschaft jedes und jeder Einzelnen, die Anderen als gleich auszuhalten“ erfordere. Das scheint bei Sexarbeitenden oft schwer zu fallen, und dennoch ist genau diese Bereitschaft und diese Haltung grundlegend für die Demokratie und eine gerechte Gesellschaft insgesamt. Und auch für eine gerechte Prostitutionspolitik.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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