Prof. Dr. Naciye Kamçili-Yildiz, Islamische Theologin, Paderborn
Dr. Ulrike Offenberg, Rabbinerin, Hameln
Dr. Martin Nitsche, Alttestamentler, Frankfurt/Main
Ulrike Offenberg: Historischer Hintergrund des Textes
Die Vielzahl der in den ersten drei Versen genannten Personen und die fremdklingenden Namen sind auf den ersten Blick verwirrend. Doch sie geben uns Hinweise auf die historische Situation, die der Prophet Jeremia adressiert. Im Jahr 597 v.d.Z. hatte das Heer des babylonischen Königs Nebukadnezar, unterstützt von ausländischen Hilfstruppen, Jerusalem erobert. Babylonien wollte das Königreich Jehuda unterwerfen und tributpflichtig machen. Um die Widerstandskraft des Landes zu brechen, ließ Nebukadnezar die Elite aus der Hauptstadt Jerusalem nach Babylonien deportieren. In Vers 2 erfahren wir, um wen es sich dabei handelt: Der König Jechoniah, die Königsmutter, die Minister und die Hofbediensteten (die Eunuchen). Neben dieser politischen Führung werden auch die Steinmetze und Kunsthandwerker aus Jerusalem deportiert – vermutlich, weil Nebukadnezar ihre Fertigkeiten schätzte und sie für die eigene Repräsentation arbeiten lassen wollte. In dem seiner Führungsschicht beraubten Jerusalem setzte Nebukadnezar einen judäischen Vasallenkönig ein, Zedekia. Das heißt, nun hatte Israel zwei Könige: den im Exil gefangenen Jechoniah mit seinem Hof, und den nun in Jerusalem thronenden Zedekia, der aber ganz von Babylonien abhängig ist. Im Vers 3 hören wir von den diplomatischen Kanälen zwischen Jerusalem und Babylon: Zedekia hat zwei Gesandte, die für die Kommunikation mit dem babylonischen Hof zuständig sind. El’assa und Gemarja übermitteln mündliche und schriftliche Nachrichten und genießen vermutlich dafür freies Geleit. Auf diesem Weg nehmen sie auch einen Brief des in Jerusalem verbliebenen Propheten Jeremia mit, der ab Vers 4 wiedergegeben ist.
Dieser Brief muss bei den Exilierten große Bestürzung ausgelöst haben. Noch suchten sie nach Erklärungen, was der Nation und ihnen persönlich widerfahren war. Wie konnte das sein: Jerusalem, die Heilige Stadt, der Wohnsitz Gottes, erobert von fremden Truppen? Dabei konnte es sich doch wohl nur um ein kurzzeitiges Manöver handeln: Sehr bald würde Gott eingreifen und den Jerusalemer Königshof und die Oberen Zehntausend in einem Triumphzug zurückführen! Und da verkündet dieser Jeremia, dass es Gott selbst gewesen sei, der diese nationale Katastrophe herbeigeführt habe?! Und die Botschaft dieses Unglückspropheten ab Vers 5, die anscheinend so positiv und ermutigend klingt, verursacht Wut und Verzweiflung: Wir sollen uns auf Dauer hier in dieser Fremde einrichten, beraubt unseres Status und unserer Privilegien? Sogar 70 Jahre soll dieses Exil andauern? Das bedeutet, dass wir die Heimat nicht mehr wiedersehen, und auch unsere Kinder nicht. Wir sollen unsere Träume auf Heimkehr aufgeben und uns ganz auf diese Fremde einlassen? Wie sollen wir in dieser Bedrängnis Gott finden, der uns verlassen hat und anscheinend die Seiten wechselte?
Martin Nitsche: Gottsuche und Propheten
Die historische Situation, in die unser Text zu sprechen vorgibt, lässt sich so exakt fassen wie bei kaum einem anderen biblischen Text. Wir haben davon gehört. Es ist ein Gruß, eine Warnung an jene, die nach Babylon verschleppt wurden, gesendet von einem Propheten aus der Heimat – einer Heimat, die gerade so noch existiert. Beide Seiten, Sender und Empfänger des Briefes, erfahren ihre Situation als gefährdet und unsicher. Ob wirklich das ganze Kapitel, ob wirklich der ganze Brief auch real aus dieser konkreten historischen Situation stammt? Da sind sich die Bibelwissenschaftler*innen schon nicht mehr so einig. In einigen Aussagen scheint sich auch die Situation einige Jahrzehnte später widerzuspiegeln, in der Heimkehrende auf Daheimgebliebene treffen, und ihre Perspektiven auf das Geschehene verhandeln müssen. Viel spricht also dafür, dass die Konstellation, die sich in diesen schicksalhaften Jahren zwischen den beiden Zerstörungen Jerusalems aufgetan hat, prägend geworden und prägend geblieben ist. Die eigene Identität spannt sich zwischen zwei Polen auf, zwischen jenen, die im Land sind und jenen, die in der „verstreut“ sind. Man könnte sagen: Der Text denkt seine eigene Wirkungsgeschichte schon mit.
Zwei ganz grundlegende Themen haben mich angesprochen: Das Thema der falschen Propheten und das Thema der Suche nach Gott. Beide Themen tauchen nicht nur in unserem Briefabschnitt auf, sie ziehen sich durch das Jeremiabuch und entwickeln dabei eine eigene Dynamik.
Zuerst möchte ich etwas zur Suche nach Gott sagen. „Gott suchen“ ist das, was Menschen eben tun können, wenn sie von sich aus eine Beziehung zu ihrem Gott haben möchten. Er tut das seine ohnehin. Das zweite Kapitel des Buches, in dem in der missglückten Beziehung zwischen Gott und Volk ein Grund für das erlebte Schlamassel gesucht wird, spricht ein gekränkter JHWH davon, dass das Volk seine Wohltaten, die er gewirkt hat, nicht erkennt – wie es nicht nach ihm fragt. In Jeremia 2,6 heißt es:
Und sie sagten nicht: Wo ist JHWH, der uns herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, der uns geführt hat in der Wüste, im Land der Steppe und des Abgrundes, im Land der Trockenheit und der Dunkelheit, im Land, das niemand durchquert und wo sich kein Mensch niederlässt?
In 2,8 lautet der Vorwurf:
Die Priester fragten nicht: Wo ist JHWH? Die Ergreifer der Tora erkannten mich nicht und die Hirten brachen mit mir. Und die Propheten prophezeiten für Baal und hinter denen, die nicht nutzen, sind sie hergelaufen.
Nun, in unserem Brief, heißt es:
12Ihr ruft mich, ihr kommt und betet zu mir, und ich werde euch hören. 13Ihr sucht mich und werdet mich finden. Immer wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, 14lasse ich mich von euch finden, sagt Adonaj. Dann werde ich eure Lage wenden und euch sammeln aus allen Völkern und allen Orten, wohin ich euch zerstreut habe, sagt Adonaj. Ich ließ euch aus Jerusalem deportieren, ich werde euch an diesen Ort zurückbringen.
In dieser Verheißung steckt in der Pragmatik des Jeremiabuches der Aufruf zur Gottsuche, nicht zur Verfolgung eigener Strategien. So komme ich zum zweiten Thema, dem der falschen Propheten. Sie sind aus der Sicht des schreibenden Propheten Jeremia jedenfalls allesamt Lügenpropheten. Es sind Leute, die offenbar unter den Exilierten Botschaften verkünden und Hoffnungen wecken. Die genannten Propheten spiegeln aus der Sicht des briefschreibenden Jeremia lediglich die (unnützen) Hoffnungen der Exilierten. Entlarvend ist folgende Formulierung, die in vielen Übersetzungen ungenau wiedergegeben wird:
7Sucht Schalom: das Wohl und den Frieden für die Stadt, in die ich euch deportieren ließ. Betet für sie zu Adonaj, denn in ihrem Schalom liegt auch euer Schalom. 8Ja, so spricht Adonaj Zebaot, Israels Gott: Lasst euch nicht täuschen von denen unter euch, die prophetisch reden oder wahrsagen. Hört nicht darauf, wie sie eure1 Träume deuten.
Wie in einer Echokammer hören die Adressaten des Briefs bei ihren „Propheten“ genau das, was sie selbst sagen und auch hören wollen. In dieser Situation findet offenbar wieder keine Kommunikation dieser Leute mit ihrem Gott statt, ein erneuter Beziehungsabbruch. Wer ist denn nun der wahre Prophet? Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Lügenprophetie in den beiden vorangegangenen Kapiteln Jeremia 27-28 legt nahe, dass sich das erst im Nachhinein erweisen wird. Dabei sollten die Angesprochenen jedoch darauf achten, dass sie wirklich nach Gottes Wegen suchen. Das Jeremiabuch hat in der Hebräischen Bibel und in der christlichen Rezeption eine große Bedeutung, weshalb auch der Blick auf die islamische Rezeption spannend ist.
Naciye Kamçili-Yildiz: Warum Jeremia nicht im Koran auftaucht
In der islamischen Theologie spielt Prophetie eine zentrale Rolle. Der Glaube an die Propheten gehört zu den Grundartikeln des islamischen Glaubens. Propheten (nabi) und Gesandte (rasūl) gelten als von Gott ausgewählte Menschen, die den göttlichen Willen verkünden. Sie dienen als moralische und spirituelle Wegweiser für ihre Gemeinschaften. Der Koran nennt 25 Propheten namentlich, darunter viele, die auch aus der hebräischen Bibel bekannt sind – etwa Abraham (Ibrāhīm), Mose (Mūsā), David (Dāwūd) und Jesus (ʿĪsā).
Jedoch betont der Koran selbst, dass dies nur eine Auswahl ist: „Und (Wir sandten) Gesandte, von denen Wir dir (die Geschichten) bereits zuvor erzählt haben, und Gesandte, von denen Wir dir nichts erzählt haben.“ (Sure 4:164). Die islamische Tradition geht davon aus, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte eine Vielzahl von Propheten gesandt wurde – laut einem Hadith bis zu 124.000. Vor diesem Hintergrund ist das Fehlen einzelner Namen im Koran nicht als Abwertung zu verstehen, sondern als Ausdruck der narrativen und theologischen Auswahl, die der Koran trifft. Dass Jeremia im Koran nicht vorkommt, bedeutet nicht, dass die islamische Theologie ihn ablehnt. Er bleibt eine faszinierende Schnittfigur: prophetisch gewürdigt in der jüdischen und christlichen Tradition, außerhalb des koranischen Kanons stehend, aber dennoch anschlussfähig an die islamische Vorstellung von Prophetie. Sein Ringen mit Gott, seine Klage über gesellschaftliche Missstände und seine Hoffnung auf Erneuerung sind Themen, die auch im Islam eine tiefe Resonanz finden, denen ich an dieser Stelle nachgehen möchte.
Ulrike Offenberg an Naciye Kamçili-Yildiz: Jeremia und seine Botschaft in dieser konkreten historischen Situation sind nicht Teil der islamischen Tradition. Was hören Sie aus muslimischer Perspektive in diesem Text?
Naciye Kamçili-Yildiz: Was bedeutet Heimatverlust?
Jeremia richtet seine Botschaft in den vorhin vorgetragenen Versen an ein Volk im Umbruch – ein Volk, das seine gewohnten religiösen, politischen und sozialen Koordinaten verliert. In diesem Kontext wird er nicht nur zum Warner, sondern auch zum Deuter der Krise und – überraschend – zum Vermittler einer neuen Haltung, indem er in 29,5 das Volk auffordert, Häuser zu bauen und Gärten zu pflanzen.
Das ist kein Aufruf zur Resignation, sondern ein radikaler Perspektivwechsel: Das Exil wird nicht nur als Strafe verstanden, sondern auch als Ort von Neubeginn und Verantwortung. Auch der Islam kennt das Spannungsfeld von Verlust, Migration und Neuorientierung: Aus islamischer Perspektive bedeutet es, sich in einer neuen Umgebung einzurichten, ohne den Glauben aufzugeben, sondern gerade darin beständig zu bleiben. Der Prophet Muhammad musste in der Anfangszeit des Islam selbst seine Heimat Mekka verlassen und sich mit seinen Gefährten in Medina neu orientieren. Diese Hidschra war nicht nur ein Ortswechsel, sondern ein gesellschaftlicher Neuanfang.
Der Koran lehrt uns. Dass Gott nicht an einen Ort gebunden, weder im Osten, noch im Westen, denn Gott ist da, wohin man sich auch wendet, heißt es im Koran, in Sure 2, Vers 115. Dieser Vers bringt auf den Punkt, was es im Islam bedeutet, in der Fremde oder in einer neuen Umgebung zu leben: Gottes Gegenwart ist nicht an Ort, Raum oder Herkunft gebunden. Seine Nähe begleitet den Menschen – ob im Exil, auf der Flucht, in einer neuen Stadt oder inmitten gesellschaftlicher Veränderungen. Gerade deshalb ist dieser Vers eine ideale theologische Brücke zu Jeremia 29: Auch dort geht es um das Leben in der Fremde – nicht als geistliche Verlorenheit, sondern als Ort, an dem Gottes Wille weiterwirkt. Wenn ein Mensch in eine neue Umgebung kommt – sei es durch Migration, gesellschaftliche Umbrüche oder persönliche Lebensveränderungen, dann soll der Gläubige nicht passiv bleiben. Jeremia fordert die Menschen zum Handeln und zur aktiven Gestaltung der Gesellschaft auf. Der Koran ermutigt ebenso zur aktiven Lebensgestaltung, es heißt in Sure 13, Vers 11: „Allah ändert den Zustand eines Volkes nicht, bis sie sich selbst ändern.“ Das bedeutet, dass der Mensch aufgerufen ist, in der neuen Umgebung nicht zu verharren oder zu klagen, sondern Gutes zu tun, Strukturen mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen – und dabei innerlich mit Gott verbunden zu bleiben.
Doch sich in einer neuen Umgebung einzurichten bedeutet mehr als bloße Anpassung. Es geht um Verwurzelung ohne Selbstaufgabe, um Teilhabe ohne Beliebigkeit, um ein Leben, das im Glauben gegründet ist – aber offen für das Neue. Ein wichtiger Anker dabei ist Vertrauen auf Gott, arabisch tawakkul, Vertrauen darauf, dass Gott mitgeht, auch wenn der Ort neu, fremd oder herausfordernd ist. Der Koran sagt dazu: „Und wer auf Gott vertraut – für den ist Er Genüge.“ (Sure 65:3) Dieses Vertrauen ist aber keine Passivität, sondern eine innere Gewissheit, dass der Mensch nicht allein ist. Der Ort ist neu – aber Gott ist und bleibt derselbe.
Der zweite Anker ist Geduld und Standhaftigkeit, arabisch ṣabr. Sich einzurichten in der Fremde braucht Zeit und Geduld. Nicht alles gelingt sofort. Der Koran fordert die Gläubigen auf: „O ihr, die glaubt, sucht Hilfe in Geduld und Gebet – wahrlich, Gott ist mit den Standhaften“ (Sure 2:153). Ein weiterer Anker ist eine Zielklarheit, arabisch niyya. Im Islam beginnt jede Handlung mit der Absicht. Sich in einer neuen Umgebung einzurichten heißt auch: Was will ich hier? Was trage ich bei?
Ulrike Offenberg: Beten für die Obrigkeit?
ְוִדְרׁ֞שּו ֶאת־ְש֣לֹום ָהִִ֗עיר א ֶֶׁ֨שר ִהְג ֵ֤ליִתי ֶאְתֶכ֙ם ָָׁ֔שָמה ְוִהְת ַַּֽפְל֥לּו ַב עָָ֖דּה ֶאל־ְיֹהָָ֑וה ִ֣כי ִבְשלֹו ָָׁ֔מּה ִיְהֶי֥ה ָלֶָ֖כם ָש ַּֽלֹום׃
7Sucht Schalom: das Wohl und den Frieden für die Stadt, in die ich euch deportieren ließ. Betet für sie zu Adonaj, denn in ihrem Schalom liegt auch euer Schalom.
Auf diesen Vers 7 gründet sich in jüdischer Liturgie das Gebet für die Obrigkeit. In den Siddurim, den Gebetbüchern, finden sich je nach Zeit und Land unterschiedliche Textfassungen dieses Gebetes. In älteren deutschsprachigen Ausgaben wird für das Wohl unseres lieben Kaisers Wilhelm II. und seine Gemahlin Auguste Viktoria, oder in Österreich für Kaiser Franz Joseph und die Kaiserin Elisabeth Amalie gebetet. Ein netter Schlenker zu unserem Text in Jeremia 29 findet sich in alten russischen Siddurim: Dort gibt es ein Gebet für die Zaren, von denen Juden und Jüdinnen in deren Riesenreich nicht viel Gutes erfahren haben. Im hebräischen Kleingedruckten heißt es ironisch: Wir beten für ihn, wie wir für Nebukadnezar gebetet haben, womit klargestellt war, wie der russische Herrscher bewertet wurde. Nach der Schoah wurde jahrzehntelang kein Gebet für die Regierung mehr in deutschen Siddurim abgedruckt – ein Ausdruck dafür, wie sehr die Überlebenden und ihre Nachkommen sich nicht positiv auf diesen Staat einlassen konnten. Man saß ja auf „gepackten Koffern“. Das Gebet für das Wohlergehen des Staates Israel trat an die Stelle des traditionellen Gebets für die Obrigkeit.
Das ist eine spezifische Geschichte, aber eigentlich stellt sich für uns alle die Frage: Gilt die Aufforderung Jeremias, sich auf die Wirklichkeit einzulassen, selbst wenn es sich um die Fremde oder eine entfremdete Situation handelt, unter allen Umständen? Müssen wir für jede Regierung beten? Und wenn ja: Wie? Ist unser Frieden im Frieden des Landes aufgehoben, selbst wenn die politischen Verhältnisse nach Veränderung schreien? Sind religiöse Menschen oder die Religionsgemeinschaften verpflichtet, sich mit jeder Realität optimistisch zu arrangieren? Was gewinnt man dabei, und welchen Preis zahlt man dafür? Wo bleibt der Wille zur Veränderung der herrschenden Verhältnisse?
Martin Nitsche: „Suchet der Stadt Bestes“: Resonanzbeschreibungen eines Kirchentagsklassikers
In Luthers einprägsamer Übertragung „Suchet der Stadt Bestes“ ist unser Textabschnitt zu einem beliebten programmatischen Predigttext und zur Grundlage zahlloser Bibelarbeiten geworden, auch auf Kirchentagen. Ich war erstaunt, wie viele entsprechende Beiträge man schon durch einfache Internetrecherche findet. Dabei gibt es kreative Umsetzungen genauso wie erwartbare Stellungnahmen. Was will man erreichen, wenn man diesen so schönen und griffigen Satz platziert? Mein Eindruck ist, dass es eine zweifache Zielrichtung gibt. Zum einen nach innen: Der Satz taugt als Appell an die eigene Community, tatsächlich einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, nicht zuletzt auch, indem man betend bei Gott für alle Menschen, mit denen man zusammenlebt, eintritt. Zum anderen aber auch als Signal nach außen: Seht her, vor uns müsst ihr nicht nur keine Angst haben, ihr könnt sogar ganz froh sein, dass es uns als Gemeinschaft noch gibt. Der Kontext ist jedes Mal die Erkenntnis, dass die Zeiten von gesellschaftsprägender Kirchlichkeit Geschichte sind und es gilt, einen Platz zu finden – einen Platz, der nach innen Haltung und Identität gibt und nach außen Anerkennung und Stabilität. Insofern scheint dieser Text ja auch wirklich dazu geeignet zu sein, über die Situation heutiger, kirchlich verfasster Christenheit in unserem Land zu sprechen. Wie bei den Exilierten in Babylon geht es darum, das Eigene nicht aus dem Blick zu verlieren – und doch im Hier und Jetzt einen festen Stand zu bekommen. Ich möchte aber anregen, dass wir diesen Text, bevor wir ihn in diese Richtungen deuten, noch einmal genauer lesen und die klassischen Adaptionen kritisch hinterfragen. Ist es nicht doch so, dass die Pole von Land und Exil den Text untrennbar prägen? Auch wenn 70 Jahre eine lange Zeit sind, ist die prinzipielle Heimkehrperspektive im Brief geradezu die Voraussetzung dafür, dass die Suche nach Stabilität in der Fremde überhaupt sinnvoll ist – und nicht einfach Assimilierung angezeigt sein könnte. Für mich kommen aus diesem Text Fragen, die wir klären müssen: Wenn unsere Situation jener der Exilierten gleichen soll, was sind dann unsere Referenzpunkte? Wo ist unser gelobtes Land, dass uns Impulse gibt? Wollen wir in der Hoffnung leben, dass sich die kirchliche Situation (ich spreche hier auch als Katholik völlig konfessionsübergreifend) in 70 Jahren (oder sonst wann) verändert oder geht es auch um eine ganz neue Selbstdefinition? Wo liegen die Versuchungen selbstbezogener Lügenprophetie aus der eigenen Echokammer, wo ist die grausame, aber heilsame Zeitansage? Und schließlich, und das wäre meine Frage für unsere interreligiöse Perspektive auf den Text: Kann es sein, dass die Konzeption aus Jeremias Brief eigentlich auch in unserem Land für jüdische und muslimische Menschen aktueller ist, weil Christinnen und Christen sich erst an eine Minderheitensituation gewöhnen müssen und nicht einfach in der Lage sind, externe Referenzpunkte zu benennen?
Ulrike Offenberg: Gewissermaßen lebt das jüdische Volk bis heute diese Spannung zwischen dem historisch-kulturellem, manchmal auch persönlichen Heimatland Israel und der Diasporaexistenz. Für die meisten gibt es kein Entweder-Oder in ihrer gefühlten Zugehörigkeit, allenfalls graduelle Abstufungen. Und gerade in der Diaspora hängt die Identifikation mit der Umgebung immer davon ab, wie Politik und Gesellschaft uns zugehörig sein lassen.
Naciye Kamçili-Yildiz: Konzepte des guten Zusammenlebens
Aktueller geht es eigentlich in der aktuellen politischen Situation in unserem Land fast nicht mehr. Lassen Sie mich darauf mit dem Vers 7 antworten, in dem Jeremia die im babylonischen Exil lebenden Israeliten zu einer überraschenden Haltung aufruft und sagt:
„Sucht Schalom: das Wohl und den Frieden für die Stadt, in die ich euch deportieren ließ. Betet für sie zu Adonaj, denn in ihrem Schalom liegt auch euer Schalom.“
Dieser Vers aus dem Brief an die im babylonischen Exil lebenden Judäer ist für mich sehr bemerkenswert in seiner theologischen und politischen Weite. Statt Rückkehrwünsche zu nähren oder Widerstand zu mobilisieren, fordert Jeremia das Volk auf, sich einzulassen: auf das Leben im Fremden, auf den Alltag im Exil – und auf das Wohl der Stadt, die nicht die ihre ist. Darin zeigt sich ein tiefes, universales Verständnis von Gemeinwohlverantwortung: Gott erwartet von seinem Volk nicht nur Treue im Kult, sondern Engagement für das soziale und politische Ganze – auch in einer Umgebung, die religiös anders geprägt ist. Der Glaube wird hier nicht exklusiv, sondern integrativ gedacht, denn sie zeigt sich im Einsatz für das friedliche Miteinander, in der Sorge für Gerechtigkeit, in der Solidarität mit der jeweiligen Umgebung – selbst dann, wenn sie als fremd oder herausfordernd empfunden wird. Diese Vorstellung von Jeremia ist aus islamischer Sicht hoch anschlussfähig. Auch im Islam ist der Mensch dazu berufen, nicht nur seine persönliche Frömmigkeit zu pflegen, sondern Verantwortung für die Welt zu übernehmen. Der Mensch gilt im Koran als khalīfa – als Stellvertreter Gottes auf Erden (Sure 2:30). Diese Würde ist untrennbar mit dem ethischen Auftrag verbunden, Gerechtigkeit zu fördern, für das Gute einzutreten, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen – auch und gerade dort, wo die Gesellschaft religiös oder kulturell vielfältig ist. Der Koran sagt: „Gott gebietet Gerechtigkeit, Güte und das Geben an Verwandte, und Er verbietet Schändliches, Verwerfliches und Gewalttat.“ (Sure 16:90) Dieser Vers macht deutlich, dass Güte und Gerechtigkeit universale Werte sind, die über religiöse Grenzen hinaus gelten. Sowohl Jeremia 29,7 als auch die islamische Tradition zeigen, dass Glaube nicht nur Beziehung zu Gott, sondern auch Haltung gegenüber der Welt ist, die untrennbar sind. Wer glaubt, übernimmt Verantwortung. Wer betet, sucht das Gute – nicht nur für sich, sondern für alle. Das Wohl der Stadt – im biblischen wie im islamischen Sinn – ist kein politisches Zugeständnis, sondern ein spiritueller Auftrag. Und diese Verantwortung kennt keine Idealbedingungen: Sie wird gerade in der Fremde, in der Minderheit relevant. Gutes Zusammenleben ist möglich – wenn Menschen sich einlassen, mittragen, mitgestalten.
Aber genau dieses friedliche Miteinander ist heute gefährdet. Die politischen Entwicklungen in unserem Land – das Erstarken antisemitischer, muslimfeindlicher und rassistischer Kräfte – zeigen, wie fragil gesellschaftlicher Zusammenhalt geworden ist. Menschen werden entwürdigt, ausgegrenzt, bedroht. In dieser Situation ist „Sucht Schalom: das Wohl und den Frieden für die Stadt“ kein harmloser Appell. Es ist ein widerständiger Aufruf zu widersprechen, wenn Menschen abgewertet werden und mitzugestalten, wenn das Gemeinsame in Frage steht.
Aus islamischer Sicht ist das keine politische Option, sondern gelebter Glaube. Dieser beginnt nicht erst im Gebet, sondern zeigt sich im Einsatz für Gerechtigkeit, Würde und Mitmenschlichkeit – in Schulen, in Vereinen, in der Nachbarschaft, in der Öffentlichkeit.
Doch das können wir nicht allein tragen. Wir brauchen Allianzen des Gewissens. Jüd:innen, Christ:innen, Muslim:innen – gemeinsam.
Abschluss
Ulrike Offenberg: Wenn wir Jeremia 29 heute ernst nehmen wollen, dann heißt das: Wir bitten um Mut, in dieser Zeit Verantwortung zu übernehmen.
Martin Nitsche: Wir suchen das Beste – für die Stadt, für die Gesellschaft, für die Menschheit.
Naciye Kamçili-Yildiz: Nicht in Angst. Nicht in Abgrenzung. Sondern: im Glauben – und in Verbundenheit.
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1 Gängige Übersetzungen (EÜ 2016; Luther 2017, Zürcher 2006) korrigieren hier; MT ist eindeutig und schreibt die Träume den Angesprochenen zu; vgl. Sharp, Jeremiah, 113.
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