Dr. Thorsten Latzel, Präses Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf
Das Leben der Anderen.
Liebe Geschwister:
wir tun heute etwas, was sich eigentlich nicht gehört: Wir lesen den Brief anderer Leute.
Das macht man nicht – außer in Gottesdiensten und auf Kirchentagen.
Paulus an die Korinther. Johannes an die sieben Gemeinden. Oder eben: Jeremia an die Exilierten.
Nun, strafrechtlich relevant ist das nicht. Sie können ruhig sitzenbleiben.
Der Brief heute ist über 2.500 Jahre alt.
Und er ist seit damals, sagen wir mal, nicht gerade selten publiziert worden.
Doch es ist gut, daran zu erinnern: Sie und ich sind nicht die ersten Adressaten.
Wir sind weder Jeremia noch Israel im Exil.
Und Hannover, nun, unterscheidet sich doch hier und da von Babylon.
Dennoch picken wir uns in einer bunten Blütenlese gerne nette Verse aus ihm heraus –
etwa: „Suchet der Stadt Bestes.“ Das passt doch gut zu unserem politischen Selbstverständnis.
Oder: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe. Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Fein, fein. Das hört man gern.
Wir tun dies, weil wir überzeugt sind, dass eben nicht nur Jeremia in dem Brief spricht, sondern Gott selbst.
Weil wir glauben, dass seine Botschaft sich nicht damals im Zweistromland erschöpft hat.
Ja, weil wir das Leben, die Geschichten, die Briefe der anderen brauchen, um das eigene zu begreifen.
Uns mangelt es wahrlich nicht an Mails und Nachrichten, wohl aber an Post von Gott.
An Orientierung, wenn die Welt wieder einmal verrücktspielt und das Leben uns fremd geworden ist.
Daher ist es gut, sorgsam hinzuhören, was die Verse genau zu sagen haben.
Versteh uns nicht zu schnell – auch wenn wir so schön und eingängig klingen!
Hören wir also zunächst den Brief – in der Übersetzung von Martin Luther.
Lesung Jeremia 29,1-14 (Dr. Thiesler)
Zunächst ein paar Schneisen ins historische Dickicht.
Wir befinden uns rund 600 Jahre vor Christus.
Das assyrische Reich ist gerade untergegangen. Die Perser sind noch nicht auf der Bühne erschienen.
In den griechischen Stadtstaaten erfreut man sich am neu entdeckten griechischen Alphabet –
und liest die true-crime-Bestseller von Homer.
An Rom, das sich erst zur Stadt entwickelt, kleben noch die Eierschalen.
Das neubabylonische Reich steigt zur Großmacht auf und zwingt andere Staaten unter seine Herrschaft.
Das Nordreich Israel ist schon seit über 100 Jahren Geschichte.
Verblieben ist das Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem.
Unter Nebukadnezar II., der vom Feldherrn zum König über Babylon aufgestiegen ist, wird Jerusalem belagert und zum tributpflichtigen Vasallenstaat.
Die verschiedenen Könige in Juda schwanken in ihrer Haltung gegenüber dieser aggressiven Großmacht.
König Jojakim verweigert den Tribut. Er stirbt aber, bevor Nebukadnezars Heer die Stadt erreicht.
Sein Sohn Jojachin übergibt die Stadt kampflos und wird 597 mit der Oberschicht nach Babylon deportiert.
An seiner Statt wird der Zidikija als Regent eingesetzt. Doch auch er verweigert später den Tribut.
Jerusalem wird erneut belagert, anderthalb Jahre lang, und dann im Jahr 587 brutal erobert:
Der Tempel wird zerstört, die Stadtmauern niedergerissen, fast alle verbliebenen Menschen deportiert.
Genau zwischen diesen beiden Deportationen ist der Brief Jeremias datiert.
Im Königreich Juda gibt es heftige politische Richtungskämpfe, wie man sich verhalten soll.
Wie viel Schutz bietet Ägypten, die Macht im Westen?
Soll man sich mit anderen Vasallenstaaten verbünden?
Zu dieser Zeit tritt der besagte junge Prophet Jeremia auf und verkündet den unbedingten Untergang des ganzen Königreichs einschließlich der heiligen Stadt Jerusalem.
Das politische wie religiöse Establishment ist angesichts dieser Botschaft „not amused“.
Und Jeremia bekommt dies deutlich zu spüren.
Was heißt es nun, wenn er den Deportierten der ersten Phase in Babylon, der Hauptstadt des Unterdrückerreiches, sagt: „Suchet der Stadt Bestes!“?
Und wenn er den dort im Exil Lebenden „Zukunft und Hoffnung“ verheißt?
In einem Dreischritt möchten Herr Dr. Thiesler und ich uns gemeinsam mit Ihnen dem annähern.
Zunächst zu Babylon, dann zum Propheten und schließlich zur Botschaft Gottes
1. „By the rivers of Babylon“ – Fremd und verlassen
Babylon hat vom Anfang der Bibel bis zu ihrem Ende – vorsichtig formuliert – nicht gerade den besten Ruf.
In den Urgeschichten ist es Ort eines größenwahnsinnigen Turmbaus und der folgenden Sprachverwirrung.
Dass der Name „Babel“ daher komme, dass da alle durcheinander „gebabbelt“ hätten, wie es 1. Mose 11 nahelegt, ist aber eher eine südhessisch angehauchte Volksetymologie.
Babylon ist dann Ort des Exils, von Unzucht, Unfreiheit und Unterdrückung.
Manches, was über Babylon gesagt wird, ist nicht nur für gewaltsensible Mensch schwer zu ertragen.
Die Stadt gilt als Sündenpfuhl und wird in frauenfeindlicher Sprache regelmäßig als Hure beschrieben.
In Psalm 137 etwa wird ihr von traumatisierten Betern eine grausame Spiegelstrafe ihrer Taten gewünscht: „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“ Schrecklich.
In der Offenbarung gilt sie als „Mutter der Huren und aller abscheulicher Dinge auf Erden“ (Offenbarung 17).
Babylon wird zum Inbegriff der widergöttlichen Stadt schlechthin.
Der Antitypos zum irdischen wie himmlischen Jerusalem. Es dient als Tarnname Roms im NT.
Wird später zum Sinnbild „verkommener Metropolen“ wie Paris oder Berlin.
Kommissar Gereon Rath lässt grüßen.
Durch den Song „By the rivers of Babylon“ von Boney M (1978) ist der Name bei uns verbunden mit Fremde, Trauer, Sklaverei. In Babylon singt man Klagelieder an Flüssen.
Dass Jeremia hier in dem Brief dazu auffordert, das Beste für diese Stadt zu suchen, gar für sie zu beten,ist einzigartig in der Bibel – und eine kaum vorstellbare Zumutung für die Glaubenden damals.
Das historisch rekonstruierbare babylonische Exil gibt ein etwas anderes, differenzierteres Bild.
Die Israeliten wohnten in eigenen Siedlungen, mussten wie alle Babylonier wohl Frondienste leisten, lebten aber nicht in Sklaverei. Sie konnten es zu gewissem Wohlstand bringen.
Eben Häuser bauen, Gärten pflanzen, Familien gründen.
Auch im Staatsapparat aufsteigen – wie von Daniel und seinen Freunden beschrieben.
Die Stadt mit ihrer kilometerlangen Stadtmauer, dem Ischtar-Tor, den prachtvollen Bauten, den hängenden Gärten und der hochentwickelten Kultur dürfte einigen Eindruck auf die Israeliten gemacht haben.
Bei Platon wird sie 300 Jahre später wahrscheinlich das Vorbild des sagenumwobenen Atlantis.
Doch Kultur hin oder her: Wie geht man um mit Babylon damals wie heute – mit menschenverachtenden militärischen Großmächten, mit unseren eigenen Orten des Exils – und mit dem Babylon der anderen?
Da sind zunächst die tyrannischen, neubabylonieschen Großmächte unserer Zeit.
Staaten, die über andere Länder herfallen, deren Rechte brechen, ihnen das Existenzrecht absprechen.
Wer denkt da nicht an den völkerrechtswidrigen, menschenverachtenden Krieg der russischen Regierung?
In Deutschland leben über 1,2 Millionen Ukrainer/innen, die vor dem Krieg geflohen sind.
Nach Europa sind – Angaben des UNHCR zufolge – über 6,3 Mill. geflohen.
Dazu kommen die in der Ukraine Vertriebenen.
Die größte Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem II. Weltkrieg.
Da ist das willkürliche und gezielte Brechen von Recht durch die US-amerikanische Regierung.
Man muss diesen Wahnsinn immer wieder als solchen benennen, um sich nicht daran zu gewöhnen.
Wer hätte es noch vor ein paar Jahren überhaupt für möglich gehalten, dass ein US-amerikanischer Präsident öffentlich den Panama-Kanal, Grönland, ja ganz Kanada als Teil der USA beansprucht? Größenwahn.
Doch man muss vorsichtig sein bei vorschnellen geschichtstheologischen Übertragungen.
„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie“, kann in den Ohren ukrainischer Menschen zurecht zynisch oder anmaßend klingen.
- Jeremia ist kein Vertreter eines radikalen Pazifismus.
- Die Ukraine ist nicht das irregehende Königreich Juda vor dem Exil.
- Und Russland vollzieht schon gar kein Gericht Gottes an der Ukraine – auch wenn führende Repräsentanten der russisch-orthodoxen Kirche dies in einer Gott lästernden Weise behaupten.
- Vor allem aber steht es uns nicht zu, von außen Forderungen zum Gewaltverzicht an eine völkerrechtswidrige angegriffene, tief traumatisierte Bevölkerung zu stellen.
Die aktuelle Pointe des Briefes sehe ich woanders: Die Macht der Großmächte ist begrenzt.
Die Geschichte liegt letztlich in Gottes Hand. Am Ende werden die Tyrannen-Reiche nicht bestehen.
Auch wenn es 70 Jahre dauern wird. Das heißt drei Generationen.
Jeremia gibt Ratschläge dazu, wie man solche Zeiten bestehen kann.
Dass es wichtig ist, sich um die eigene Gemeinschaft zu kümmern.
Und: dass man sich gerade vor falschen Propheten hüten soll.
– Ein zweiter Gedanke zu Babylon: Er betrifft das „Babylon der anderen“ – und das sind für manche wir.
Es ist interessant, dass wir uns bei biblischen Geschichten schnell und gern auf der Seite der Guten wissen. Doch davor sollte gerade die Exilserfahrung des jüdischen Volkes bewahren.
Nachfahren afro-amerikanischer Sklaven haben unsere Wirtschaft als babylonisches System beschrieben: Babylon – das ist in dieser Perspektive unsere freiheitlich, demokratische Gesellschaft des Westens.
Auch das bereits zitierte Lied von Boney M hat diesen Hintergrund in der Reggae-Bewegung der 60er Jahre.
Menschen anderer Länder erleben Europa als Fremde, Exil.
Und der Brief Jeremias liest sich ganz anders, wenn er an eine Flüchtlings-unterkunft bei uns adressiert ist.
Auch hier gilt es, sich vor einseitigen, schnellen Übertragungen zu hüten.
Gerade die unsäglichen Debatten während des Bundestagswahlkampfs haben gezeigt, dass dem Thema Migration viel mehr Sachlichkeit und Menschlichkeit guttun würde.
Der Brief Jeremias an die Exilierten kann sensibilisieren für die Situation von Menschen im Exil.
Er lässt sich lesen als Anleitung an Entheimatete, zum Wohl der Fremde beizutragen.
Aber er lässt sich auch interpretieren als eine Aufforderung an uns als „Babylonier“:
„Suchet der Fremden Bestes und betet für sie. Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es euch gut.“
- Ein dritter Gedanke zu Babylon: zum eigenen, persönlichen Exil.
Die Erfahrung einer tiefen, existentiellen Fremdheit kann man auch machen,
wenn man zuhause, im eigenen Land lebt.
Fremd ist der Fremde eben nicht nur in der Fremde.
Sondern auch in einer Welt, die verrücktspielt. In einem Leben, das einem entgleitet.
In der Einsamkeit der eigenen vier Wände.
Das Gefühl des Exils kann dabei viele Gesichter tragen.
- Etwa für alte Menschen, die an Demenz erkranken und auf einmal mit Wildfremden in ihrer Küche sitzen.
Arno Geiger etwa hat das in seinem Roman „Der alte König in seinem Exil“ im Blick auf seinen Vater eindrücklich beschrieben.
- Das Gefühl des Exils gibt es bei jungen Menschen.
Gerade beim Wechsel von Schule zu Ausbildung bzw. Studium ist die Einsamkeit statistisch am größten.
Lost in space. Ein stilles Leiden junger Menschen, denen man ihr inneres Exil äußerlich oft nicht ansieht.
- Das Gefühl des Exils haben Menschen in meinem Alter und mit meiner Haarpracht.
Wenn das Leben festgefahren ist. Sich beruflich wie privat nichts neues mehr tut.
Und das einzig Aufregende der Wechsel des Tagesgerichts in der Kantine ist. Bore out. Innere Emigration.
Angesichts solch babylonischer Erfahrungen leitet der Brief zu einer Resilienz aus Glauben an:
Lass Dich nicht von außen bestimmen!
Nicht von der Fremde in deiner Jugend, deinem mittleren oder hohen Alter.
Schätze die kleine Welt wert, in die du von Gott gestellt bist. Für das große, weite All ist Gott zuständig.
Entfalte deine Gaben. Kümmere dich um deine Kolleginnen, bete für deine Nachbarn – egal, wie seltsam sie sind. Denn wenn es ihnen gut geht, geht es dir gut.
Damit ist noch nicht aller Tage Abend. Schon gar nicht bei Gott.
Doch was assoziieren Sie mit Babylon, lieber Herr Thiesler?
2. Von wahren und falschen Propheten
Nach Babylon nun zur Person des Propheten.
Die interreligiöse Begegnung ist zu Zeiten Jeremias, sagen wir mal, einfacher gestrickt.
Mehr Keule und Beule als Dialog und Diskurs. Wer siegt, hat den wahren, weil stärkeren Gott.
Gott als religiöser Garant staatlicher Sicherheit.
Jerusalem spielt dabei noch einmal eine besondere Rolle, hat hier im Tempel doch der Schöpfer Himmels und der Erden selbst Wohnung genommen: Auf dem Tempelberg 1.
Hier in der heiligen Stadt steht der Thron Davids, dem ewiger Bestand verheißen ist.
Gut, das Nordreich Israel ist untergegangen. Aber so richtig rechtgläubig waren die eh nicht.
Klar, es kann verlorene Schlachten geben. Dann braucht es Buße. Umkehr.
Doch ein Untergang Jerusalems? Unvorstellbar!
Das hieße ja, Gott selbst wäre unterlegen, seine Treue nicht verlässlich, sein Wort nicht wahr.
Doch genau diesen Untergang Jerusalems verkündet Jeremia.
Nicht weil der Gott Israels schwach oder unterlegen ist.
Sondern weil der König und das Volk den Bund gebrochen und Gottes Gebote verlassen haben.
Nun steht ihr eigener Gott auf der anderen Seite und vollzieht durch die Feinde Gericht an seinem Volk.
So Jeremias Botschaft.
Das gesamte Jeremia-Buch zeugt davon, was für eine Zumutung seine Botschaft gewesen ist.
Jeremia ist Priester-Sohn (immer diese Pfarrerskinder). Sein Name heißt: „Der HERR ist erhaben“.
Von Gott selbst wird er zum „Propheten für die Völker“ berufen, über „Völker und Königreiche“ gesetzt.
Ausdruck der universellen Macht des Gottes Israels.
Man kann nicht gerade sagen, dass Jeremia sich um den Job gerissen hätte.
Schon bei seiner Berufung verweist er darauf, dass er viel zu jung ist.
Doch mit dem Höchsten lässt sich in solchen Dingen schwer verhandeln.
Immer wieder klagt er Gott sein Schicksal: über die Mordpläne der Männer seiner Heimatstadt gegen ihn, über Verfolgung, Einsamkeit, Spott, das Ausbleiben des Angesagten.
Ja, Gott selbst habe ihn getäuscht, überredet – und er verflucht den Tag seiner Geburt.
Sein Klagen wird geradezu sprichwörtlich: eine „Jeremiade“.
Sein Auftrag ist „ausreißen und einreißen, zerstören und verderben, bauen und pflanzen“.
Man hört das massive Übergewicht des Gerichts.
Jeremia verkündet dies mit starken Zeichenhandlungen: Er zertrümmert Tonkrüge. Geht erst unter einem hölzernen, dann einem eisernen Joch durch die Stadt – als Zeichen kommender Knechtschaft.
Heute bekäme man für solch eine Performance einen Predigtpreis: „Durch den innovativen Einsatz von Alltagsobjekten gelingt dem Preisträger eine zielgruppengemäße religiöse Ansprache heikler Themen.“
Einladung zur Bibelarbeit am nächsten Kirchentag garantiert.
Damals setzte es Schläge, Haft und Pranger.
Ich bin daher zurückhaltend, wenn wir allzu vollmundig ein prophetisches Wächteramt beanspruchen.
Es ist wichtig, dass wir als Kirche theologisch-ethische Orientierung geben.
Doch zur Prophetin wird man von Gott berufen. Man ist das nicht als Gesamtinstitution.
Und es ist kein Zuckerschlecken.
Aber genau um die Frage, was wahre und falsche Propheten ausmacht, geht es auch in diesem Brief.
„Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!
Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.“
Prophet/innen sind Zeitansager/innen im Namen Gottes, die oft gegen den Mainstream stehen. Doch:
Weder ein Amts-Talar noch der wohlgefütterte Mantel eines Moralapostels sind prophetische Standeszeichen. Und schon gar kein selbstgebastelter Alu-Hut. Nicht die eigenen Träume.
Allein Gottes Wort und Sendung sind es, die eine zur Prophetin machen.
Ich finde es erschreckend, wie sehr Gottes Wort heute politisch instrumentalisiet und missbraucht wird:
- in Russland, wenn Repräsentanten der russisch-orthodoxen Kirche den Ukraine-Krieg religiös begründen.
- in den USA, wenn Teile der evangelikalen Bewegung einen rechtbrechenden, lügenden, autokratischen Präsidenten religiös legitimieren.
- bei uns, wenn die Botschaft Jesu Christi von der einen allumfassenden Liebe Gottes und Gottes Reich zum bloßen Wohlstandsevangelium wird:
zum religiösen Framing meines Lebensstils auf Kosten anderer Menschen, Geschöpfe, Generationen.
Doch bevor ich mich jetzt in meine Jeremiade steigere:
Lieber Herr Thiesler, was ist Ihre Meinung zu den wahren und falschen Propheten unserer Tage?
3. Die Suche nach der Stadt Bestem – und die Heimat in der Fremde
Kern und Höhepunkt des Briefes sind die Aufforderungen und Verheißungen an ihrem Ende.
Zum einen die Aufforderung: „Suchet der Stadt Bestes“,
Zum anderen die Zusage Gottes einer heilvollen Zukunft.
Zwei Dinge fallen dabei zunächst auf:
1. Der Unheilsprophet Jeremia, der stets das unbedingte Gericht verkündet hat,
spricht den Menschen im Exil hier Halt, Heimat und Hoffnung zu.
Dabei agiert er zutiefst antizyklisch:
- Er sagt Unheil an, wo sich alle in falscher Heilssicherheit wiegen.
- Und er verkündet Zuversicht, wo die anderen nur noch Untergang sehen.
Er tut es nicht aus einer prinzipiellen Oppositionshaltung: Hauptsache ich bin dagegen.
Sondern aus der radikal anderen Perspektive Gottes, dessen Wege und Gedanken nicht unsere sind.
Diese andere Weisheit Gottes ist und bleibt eine Zumutung des Glaubens – damals wie heute.
Für uns als Christ/innen ist dies Inbegriff einer Theologie des Kreuzes.
2. Jeremia fordert auf, das Beste, wörtlich den „Schalom“, für die Hauptstadt der Unterdrücker zu suchen.
Schalom meint hier mehr als Frieden. Es meint Glück, Wohlergehen, Heilsein im umfassenden Sinne.
Was für eine Zumutung für eine Gemeinde von Zwangsdeportierten!
Wichtig ist hier die Begründung: „Denn wenn es ihr [also Babylon] gut geht, dann geht es euch gut.“
Das klingt recht funktionalistisch, taktisch, egozentrisch: Das Beste für die Fremden, weil es euch nützt.
Tatsächlich ist es jedoch Ausdruck der Erkenntnis einer letzten, tiefen Verbundenheit.
Ein Denken, dass die Schemata von Feind und Freund unterläuft.
Babylon bleibt die Metropole eines gewaltsamen Unterdrücker-Reiches.
Doch das Schicksal Israels ist eben eng mit ihm verwoben.
Es gibt das Wohl des Gottesvolkes nicht ohne das Wohl der Welt, mag sie so gottlos sein, wie sie will.
Ja, vielleicht liegt genau darin sogar die Bestimmung des Gottesvolkes: das Beste der anderen zu suchen.
Diese Haltung Jeremias ist bedeutsam bis hinein in den Konflikt Israels/Palästinas unserer Tage.
Israel ist nicht erst nach dem menschenverachtenden Terroranschlag der Hamas ein tief traumatisiertes Land. Angesichts der dauerhaften Bedrohung von außen hat es das Recht, sich gegen Terror zu verteidigen. Doch der Umgang mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch die Regierung verletzt nicht nur deren elementare Menschenrechte: auf Nahrung, Schutz, Bildung, medizinische Versorgung.
Es widerspricht dem, was Israel gut tut, und wozu es durch seine eigenen Propheten von Gott berufen ist:
Gottes Gedanken des Friedens, nicht des Leides. Daran dürfen wir als Christ/innen Anteil haben.
Wichtig sind dabei die handfesten Konkretionen:
Baut Häuser, pflanzt Gärten, nehmt euch Frauen (bzw. Männer) und gebt euren Kindern Partner/innen.
Mein Glaube ist da mitunter eher etwas abstrakt, wenn ich wieder einmal versuche, frommer zu sein als der Schöpfer selbst. Hier dagegen wird Gottes Segen und Beistand ganz konkret erfahrbar.
Und meine katholische Oma Frieda, die hätte Jeremia gut verstanden.
Sie war Vertriebene aus Schlesien. Zwangsdeportiert.
Haus bauen, Garten pflanzen, Familie gründen war genau ihr Programm.
Und den eigenen Glauben wahren – mitten in der Fremde des evangelischen Wittgenstein.
„70 Jahre“: Das ist, wie wenn ich als Flüchtlingsenkel auf ihre Zeit zurückschaue oder sie voraus auf meine. Was wäre ich ohne sie – und was werden unsere Enkel einmal sein ohne unsere mutigen Taten heute!
Baut Häuser, pflanzt Gärten, gründet Familien. Das ist mehr als ein kleinbürgerliches Aufbauprogramm.
Es ist ein praktizierter Glaube, der auf Gottes Zukunft-Verheißungen baut.
Frech achtet die Liebe das Kleine – und die Hoffnung das Konkrete.
Dass Gottes heilvolle Zukunft kommt, kann das Volk Israel damals so wenig machen wie wir heute.
Aber ich finde es nur fair, Gott zumindest die Landebahn freizuhalten: „dass ihr nicht weniger werdet.“
Gott allein weiß, was in 70 Jahren einmal sein wird.
Und Glaubende sind Menschen, die das Beste immer noch vor sich wissen.
Womit wir bei den wunderschönen Verheißungen am Ende des Briefes wären:
„Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr:
Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.
Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören.“
Mitten im Exil zeigt Gott sich hier als ein verheißender, liebender, zukunftsöffnender Gott.
Gottes Gericht ist immer nur sein uneigentliches, vorletztes Handeln. Ein Brennen seiner Liebe.
Auffällig ist, dass hier keine Sollens-, sondern Seins-Aussagen gemacht werden.
Keine Aufforderung, sondern Verheißung. „Ihr werdet mich anrufen ... und ich will euch erhören.“
Das Exil mit dem Verlust des verheißenen Landes, der heiligen Stadt Jerusalem, des Tempels war eine der tiefgreifendsten Gefährdungen des Volkes Israels wie des jüdischen Glaubens.
Die Anfechtung durch den Sieg eines Tyrannen-Reichs mit seinen fremden Göttern.
Tatsächlich führte es zu einer einzigartigen Erneuerung des jüdischen Glaubens und seiner Theologie.
Ob Sabbath, Beschneidung oder Schöpfungsglauben, ob die Bücher der Tora, die großen geschichtlichen Werke oder prophetischen Bücher – sie alle wurzeln in dieser Zeit.
Und die Menschen im Exil erfahren Gott neu: Als Herrn der Geschichte mitten im Exil.
Als Liebenden mitten im Gericht.
Als Halt, Heimat und Hoffnung in der Fremde.
Dafür lohnt es sich, den alten Brief neu zu lesen – um auch an einer verrückten Welt nicht irre zu werden.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.