Existentielle Entscheidungen?

Interview

Interview mit Jacob Joussen, Gast auf dem ökumenischen Podium "Existentielle Entscheidungen?" beim Katholikentag.

2020 hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine neue, bislang noch ungeklärte Situation geschaffen? War es oder ist es an der Zeit, dass in Deutschland über assistierten Suizid diskutiert wird?

Ich denke, es ist in Deutschland genauso an der Zeit wie in vielen anderen europäischen Ländern, darüber zu sprechen. Wir wissen aus vielen Situationen, aus den Einrichtungen, aus entsprechenden Untersuchungen, dass das tatsächlich vorkommt, dass in Einrichtungen dieser Wunsch geäußert wird. Wir reden nicht von auffallend hohen Zahlen, aber wir reden von einem Geschehen, das passiert, und das muss Anlass sein, darüber zu sprechen.

Die EKD, aber auch die Deutsche Bischofskonferenz und verschiedene katholische und evangelische Einrichtungen lehnen bislang assistierten Suizid mit Blick auf den Schutz des Lebens ab. Können Sie vielleicht einmal die aufeinandertreffenden Rechte und Pflichten schildern?

Hier prallen viele unterschiedliche Dinge aufeinander: Auf der einen Seite sind jetzt noch einmal vom Verfassungsgericht der geschützte Rechtsanspruch und die Rechtsstellung des Einzelnen verstärkt worden, der sagt: „Ich möchte dieses Leben nicht mehr, ich möchte mein Leben beenden.“ Das ist sicher ein gewichtiges Kriterium, das in den Abwägungsvorgang hineinspielt.

Auf der anderen Seite haben wir zu berücksichtigen, dass es tatsächlich Organisationen gibt, die damit Geld verdienen, die als Verein aber eben auch Rechte haben, das zu tun, was sie wollen.

Wir haben auf der nächsten Seite eine Gesellschaft, die ein Interesse daran haben kann, den Suizid nicht zum Normalfall werden zu lassen.

Wir haben zusätzlich das Interesse derjenigen zu berücksichtigen, die vielleicht kurz vor dem Tod stehen und, weil sie keinen Angehörigen zur Last fallen wollen, sagen: „Dann gehe ich lieber diesen Weg, bevor ich jemandem zur Last falle.“ Die entscheiden damit quasi aus einer Drucksituation heraus.

Wir haben schließlich die Vorstellungen der Kirchen, die Lehrvorstellung der katholischen Kirche und die Verlautbarungen der evangelischen Kirche, die aus einer geschichtlichen Entwicklung heraus kommend immer gesagt haben: „Suizid als solcher ist Sünde.“ Das haben wir zum Glück hinter uns gelassen. Aber immer noch hadern wir damit, dass es Menschen gibt, die das von Gott gegebene Geschenk, so wie es immer formuliert wird, zurückgeben wollen.

Sie haben ja gerade die verschiedenen Pole beschrieben. Sie selbst kommen jetzt, anders als die EKD erst mal zu dem Schluss, dass in bestimmten Fällen dieser assistierte Suizid möglich sein sollte. Welche Kriterien wären Ihnen da besonders wichtig, damit in diesen Einzelfällen ein assistierter Suizid doch möglich gemacht werden kann?

Die EKD hat sich in der Frage weiterentwickelt. Unmittelbar nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2020 gab es eine Stellungnahme des Ratsvorsitzenden, der ganz klar gesagt hat: „Das geht nicht.“ Im Hintergrund stand dabei immer die Vorstellung des Dammbruchs, des Tabubruchs. Das ist bereits in der Ratssitzung unmittelbar nach der Entscheidung kritisch hinterfragt worden, und in den letzten zwei Jahren hat es eine Neubesinnung gegeben.

2021 hat die EKD in einer langen Stellungname geschrieben: „Wir akzeptieren, dass es auch evangelischerseits unterschiedliche Stellungnahmen und Positionen geben kann. Wir akzeptieren, dass es ein Dilemma am Ende des Lebens gibt, bei dem man unterschiedlicher Auffassung sein kann.“ Deswegen gibt es spätestens seit 2021 keine einheitliche Position der EKD mehr, sondern es ist - gut protestantisch - ein Weg entstanden, auf dem man sich positionieren kann.

In der Tat habe ich von Anfang an das Urteil für eher richtig gehalten. Anders als die Mehrheit im Rat, die sich aber später auch geändert hat. Heute hat der Rat eine weiterentwickelte Position und akzeptiert, dass es so etwas geben kann. Der Rat hat auch akzeptiert, und das sehe ich auch so, dass wir noch keine klaren Kriterien haben.

Das Verfassungsgericht hat eindeutig gesagt: Jeder Mensch muss das entscheiden und in Anspruch nehmen können, unabhängig davon, ob er krank ist, oder ob er alt ist. Er muss es nur frei bestimmt tun können. Das sortiert die Menschen aus, die keinen freien Willen bilden können, wahrscheinlich auch Kinder. Das sortiert aber nicht mehr den 19-jährigen aus, der vielleicht Liebeskummer hat und sagt: „Jetzt möchte ich aufhören.“ Das müssen die Kirchen nicht mitgehen.

Wir müssen als Kirche nicht alles so sagen, wie das Verfassungsgericht. Deswegen bin ich eher der Auffassung, dass man assistierten Suizid beschränken sollte. Ich bin aber selbst noch unsicher, wie stark. Da streiten zwei Strömungen in mir. Auf der einen Seite denke ich, wir sollten es auf bestimmte Extremsituationen beschränken. Menschen, bei denen aus gesundheitlichen Gründen klar ist, dass das Leben voller Leid ist, dass es ein Ende hat, welches auch palliativ nicht mehr aufgefangen werden kann. Auf der anderen Seite denke ich von meiner Herkunft als Jurist, als freiheitsdenkender Mensch her, dass in einer Rechtsordnung jeder das auch unabhängig vom christlichen Standpunkt entscheiden können muss. Auch der 50-Jährige, der sagt: „Es reicht mir, ich habe alles erreicht.“

Wir als Kirchen sollten dafür kämpfen, dass wir das Leben nicht zu vorschnell aufgeben und nicht sagen: „Macht alles, was ihr wollt.“, sondern: „Das Leben ist lebenswert.“ Ich finde die Formulierung des Geschenkes Gottes immer noch schön und gut. Deswegen bin ich da in meiner christlichen Vorstellung sehr viel enger, glaube aber nicht, dass wir es der Gesellschaft vorgeben können, da bin ich sehr verfassungsorientiert.

Was entgegnen Sie den Menschen, die sagen, wenn wir das überhaupt erlauben, dann ist das schon eine Art Dammbruch, dann besteht die Gefahr, dass der Schutz des Lebens nicht mehr gewährleistet ist?

Ich finde Dammbruch-Argumente in Diskussionen immer ganz schlecht. Weil sie letztlich Diskussionen verhindern.

Allerdings müssen wir ganz klar sagen, wir bewegen uns in Fallzahlen, die nicht befürchten lassen, dass demnächst die Leute alle in großen Zahlen sagen: „Ja, dann mache ich mit meinem Leben, was ich will.“ Dafür hängen die Menschen viel zu sehr an ihrem Leben.

Es geht mir darum, in den punktuellen Einzelsituationen einen Weg zu eröffnen, dass Menschen das Gefühl haben, ich muss nicht alleine sein. Wir wissen aus Untersuchungen, dass immer dann, wenn es diese Möglichkeit gibt, viele Menschen von diesem Wunsch wieder abrücken. Die Möglichkeit gibt ihnen Sicherheit, sie lassen sich dann beraten und auch wieder vom Leben überzeugen.

Natürlich ist die Gefahr da, dass wir Menschen unter Druck setzen, wenn es zum Normalfall wird. Aber niemand, der ernsthaft – jedenfalls in den christlichen Kirchen argumentiert – möchte assistierten Suizid zum Normalfall werden lassen. Wer das behauptet, ist polemisch. Deswegen sehe ich die Gefahr des Dammbruches nicht.

Sie treffen beim Katholikentag im Rahmen eines Podiums einerseits auf Claudia Bausewein und Monika Barth, die unter gewissen Kriterien mit Ihnen übereinstimmen, und andererseits auf Kerstin Kurzke, die aus der Hospizarbeit kommend, wahrscheinlich doch eher noch auf den Schutz des Lebens bestehen wird. Welche Fragen sind jetzt in dieser Debatte noch offen? Was wollen Sie beim Katholikentag einbringen?

Ich denke, dass deutlich werden muss und deutlich werden kann, dass die beiden Kirchen hier tatsächlich unterschiedlich denken und unterschiedliche Argumentationshilfen geben.

Die EKD hat einen Entwicklungsprozess mitgemacht, den die katholische Kirche – aus meiner Sicht –noch nicht machen möchte und kann. Und es lohnt sich schon, das ein bisschen näher zu beleuchten, um Menschen auch deutlich zu machen: Bei aller Ökumene, die wichtig ist und die mir persönlich aus biografischen Gründen immer nahe ist, gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf bestimmte Fragen.

Nicht zufällig ist es hier wieder ein Beispiel aus einem der Grenzbereiche des Lebens, wo die Unterschiede ganz häufig sichtbar werden. Die sehr klare und sehr wenig differenzierende katholische Sichtweise trifft auf eine evangelische Sichtweise, die sehr mit sich ringt, Brüche aufweist, und dadurch vielleicht näher an dem ist, was viele Menschen mit sich selbst herumtragen, die nichts anfangen können mit einer klaren schwarz-weiß Argumentation, sondern die eine Hilfestellung bei der eigenen Meinungsfindung brauchen und die Gewissheit haben möchten, dass wir auch am letzten Schritt nicht aufhören zu begleiten.

Und das fehlt mir auf der katholischen Seite dann eben doch. Wo wir häufig hören: „Ja, wir müssen die Menschen begleiten“, aber wenn es dann auf den allerletzten Schritt ankommt, die Begleitung entweder ins Leere läuft, aufhört oder nicht weitergedacht wird.

Sie haben beschrieben, dass es durchaus Unterschiede gibt. Wie wichtig ist trotzdem, dass diese gemeinsame Diskussion stattfindet und dass es am Ende vielleicht auch eine gemeinsame Position der Kirchen dazu gibt?

Ich bin immer ein ganz großer Anhänger von Träumen und Idealismus, aber ehrlich gesagt bin ich so realistisch, dass ich das überhaupt nicht sehe. Häufig hört man: „Wenn die Christen noch eine Stimme haben wollen, müssen sie einheitlich auftreten.“

Das gilt in ganz vielen politischen Debatten so, ich halte das auch für ein gutes Argument, aber nicht immer. Ich finde, man muss Unterschiede nach wie vor deutlich benennen können. Gerade in diesen Fragestellungen, die am Ende des Lebens bleiben. Es muss es nicht auf eine einheitliche Stellungnahme hinauslaufen.

Christsein heißt ja nicht, dass wir alle, unter Aufgabe dessen, wovon wir überzeugt sind, auch Gleiches formulieren müssen. Ich finde es wichtig, dass beide sagen, dieses Thema muss diskutiert werden, dieses Thema muss auch aus der Sicht der Menschen und für die Menschen diskutiert werden.

Aber wenn wir am Ende feststellen, dass wir nicht einer Meinung sind, finde ich das überhaupt kein Drama – im Gegenteil! Das finde ich schon inner-evangelisch nicht und ökumenisch erst recht nicht.

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