Manuskripte 2025

Kirchentag in Hannover

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag einzusehen.

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; wir veröffentlichen alles, was uns die Referierenden zur Verfügung stellen. Die Dokumentationsrechte für ganze Texte liegen bei den Urheber:innen. Bitte beachten Sie die jeweiligen Sperrfristen.

 

Sperrfrist
Do, 01. Mai 2025, 09.30 Uhr

Do
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Donnerstag | Bibelarbeit
Dialogbibelarbeit | Eckhard Nagel, Jordis Schattenfroh
Mut zum Widerspruch | Markus 7,24-30
Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. h.c. Eckhard Nagel, Arzt, Bayreuth

„Wenn Dein Kind Dich nach zwanzig Jahre fragt …“

Am Anfang war das Wort 

Die Lektüre eines Buches – heute überhaupt noch relevant? Und wenn ja, geht es dann darum, dass Gelesene aufzunehmen und zu beherzigen im wörtlichen Sinne oder eher assoziativ, emotional? 

Bei dem Buch der Bücher – so wie wir die Bibel bis heute nennen – ist das durchaus nicht einfach zu beantworten. Das hängt mit der eigenen Lebenserfahrung und der eigenen Orientierung zusammen. Dabei kann ich für mich selbst feststellen, dass es auch etwas zu tun hat mit der Situation, in der ich einen Text aufnehme. Aber sehr häufig verfangen Sätze und deren Aussagen und regen einen Prozess des Denkens, des sich Veränderns, des Wachstums an. Das ist für viele Menschen ähnlich und für Martin Luther war damit die Einordnung der ersten Worte des alten Testamentes nicht schwierig: am Anfang war das Wort. 

Lasst uns deshalb in dieser Morgenstunde, in dieser Bibelarbeit auch mit dem Text beginnen, den uns die Kirchentags Gemeinde vorgegeben hat: Wir finden ihn im Markusevangelium 7,24-30.

Diese Passage findet sich im Markusevangelium im Kapitel 7, wo Jesus zuvor mit den Pharisäern über Traditionen und Reinheit diskutiert hat (Markus 7,1-23). Das geht nicht ohne Spannungen und so betont er gegenüber den religiösen Bewahrern, dass wahre Verunreinigung von innen kommt und nicht durch äußere Rituale begründet wird. Er verlässt daraufhin jüdisches Gebiet und reist in die heidnische, mit anderen Worten nicht-jüdische Region um Tyrus (im heutigen Libanon). Dies war historisch gesehen phönizisches Gebiet, das damals bereits oft im Konflikt mit Israel stand. Dort kommt es zu einer bemerkenswerten Begegnung – er trifft sich mit einer so genannten „Heidin“. Die Tochter der Frau, die ihm begegnet leidet unter einem zerstörerischen Geist – einem Dämon – heute würden wir sagen, sie hat eine schwere psychische Störung. 

In einer Zeit, in der man noch fest davon überzeugt war, dass Krankheit nicht schicksalsbedingt oder die Grundlage einer Störung im komplexen Ablauf des biologischen Organismus sei, war die psychische Störung ein Makel, der z.B. einem von außen eindringenden, bösen Geist zugeschrieben wurde. Und das Eintreten einer solchen Erkrankung wurde nicht selten auf ein Fehlverhalten, einen Mangel an Glauben oder eine falsche Orientierung zurückgeführt: kurz es brauchte einen Schuldigen für diese Situation. 

Insofern sind die Frau und ihre Tochter, die uns in dieser Geschichte begegnen, in vielerlei Hinsicht marginalisiert: als Frauen (Sexismus), als Fremde – Syrophönizierinnen (Ethnizität), als nicht-jüdisch (Religion) und als Mutter einer von dämonischen Mächten betroffenen Tochter (sozialer Status). 

Der Text fordert also zur Wahrnehmung und Schärfung hinsichtlich verschiedener Perspektiven und Vorurteilen heraus. Und dies geschieht mit dieser Textstelle bis heute.

Das hat doch dazu geführt, dass über die Jahrhunderte der Interpretation des Evangeliums, diese Geschichte sehr unterschiedlich ausgelegt wurde: auf der einen Seite wurde hervorgehoben, dass Jesu Wirken von seiner Zielrichtung her eine universelle Reichweite weit über Israel hinaus hatte. Zum anderen wurde die Bibelstelle dazu verwendet die Priorität seiner Mission – zuerst zu den Israeliten, dann zu den Heiden (Römer 1,16) – aufzuzeigen. Und Dritte wiederum interpretieren die Begegnung als Verdeutlichung des Willens Jesu das Trennenden zu überwinden.

Wo immer man einen Schwerpunkt legen möchte: neben der klaren Aussage, dass Andersartigkeit nicht zu Ausgrenzung führen darf, sticht in dieser Erzählung etwas anderes heraus: der unverbrüchliche Glaube an die Macht Jesu und der Mut der Mutter zum Widerspruch. Sie gibt nicht auf, als Jesus sie vertrösten möchte. Sie kämpft für ihre Tochter, weil sie an die Heilungskraft Jesu glaubt – und sie erkämpft sich mutig seine Gnade. 

Zwei weitere Blickwinkel seien erwähnt: Eine Botschaft darüber, dass für alle genug da ist. Und ein Jesus, der sich überraschen und bewegen lässt von einer anderen Perspektive (vgl. Aliyah El Mansy). 

Jesus würdigt also ihren Glauben und ihren Mut. Dies entspricht auch der alttestamentlichen Verheißung, dass Gottes Heil und Barmherzigkeit allen Völkern gilt (Jesaja 49,6). Diese Passage fordert alle heraus, die sich aufgrund ihrer Religion oder anderer Eigenschaften von Andersartigem gerne abgrenzen wollen: Es ist eindeutig – das Heil Jesu gilt für alle Menschen. Und wir dürfen lernen, dass wir Jesus mit Demut begegnen, aber auch beharrlich im Glauben und im Gebet sein sollen – immer im Vertrauen auf Gott. Der Glaube und das Vertrauen führen in dieser Bibelstelle zur Befreiung, was zeigt, dass nicht die Zugehörigkeit, sondern Glaube den Zugang zu Jesu Wirken eröffnet. Kann das für mich in meinem Leben relevant sein? 

Exkurs zur Medizin und den Heilungserzählungen

Als Arzt beschäftige ich mich beruflich, aber auch in meinem alltäglichen Dasein mit Heilung in seiner umfänglichen Form. In der Luther-Bibel findet sich die Redewendung „Dein Glaube hat dir geholfen“ sechs Mal. „Dein Glaube hat dir geholfen“ – das sind Worte, die Jesus laut biblischem Bericht zu ganz unterschiedlichen Personen gesprochen hat. Immer ging es dabei um Heilung wie in unserem Text. Wenn man die Bibel liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen Glauben und Gesundheit. Ja, die Heilungserzählungen legen sogar nahe, dass dieser Zusammenhang zwischen Glauben und Gesundheit direkt und kausal ist. Und darauf weist uns auch die Geschichte der Syrophönizierin hin. Jesus heilt ihre Tochter aus der Ferne – ein Zeichen seiner göttlichen Macht. Das Wunder geschieht sofort und vollständig. Jesus ist das Brot des Lebens (Johannes 6,35) und selbst die „Brosamen“ seiner Gnade haben die Kraft zu heilen und zu retten.

Aus diesen Erzählungen lassen sich durchaus häufig gebrauchte Thesen ableiten: 

1) Unser Gesundheitszustand ist der Spiegel unseres Glaubens.

2) Jeder Mensch, der wirklich glaubt, kann mit sofortiger Wirkung von all seinen Leiden geheilt werden.

3) Menschen, die krank sind, zeichnen sich durch einen Mangel an Glauben aus.

Ich formuliere diese drei Punkte bewusst provokant. Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass viele Christinnen und Christen von der Radikalität dieser Schlussfolgerungen irritiert sind. Auch ich wehre mich gegen die vermeintliche Klarheit dieser Sätze. Als Arzt und als Christ weiß ich, dass der Glaube kein Heilungsautomatismus ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Zusammenhang zwischen Glauben und Gesundheit mit kausal-mechanistischen Prinzipien erklärt werden kann. Es gibt bestimmt viele Menschen, die wahrhaft glauben, und trotzdem keine wundersame Heilung erleben. Diesen Menschen möchte ich ihren Glauben nicht absprechen! Allerdings kann es passieren, dass Menschen, deren Hoffnung auf Heilung enttäuscht wurde, sich selbst ihren Glauben absprechen. Die Ambivalenz solcher Gedanken haben wir gestern im Eröffnungsgottesdienst von der jungen Studentin gehört, deren Mutter schwer erkannt war und deren Heilungsgeschichte ihr viel Mut gegeben hat. Wir wissen, das passiert nicht immer. Und Kirche scheitert nicht selten an der Entmutigung von Patientinnen und Patienten. Aich ich habe konkrete Erinnerungen beispielsweise an die Visite mit einem Bischof im Augsburger Klinikum. 

Das lässt uns im Mangel zurück – Menschen sind oft tief verzweifelt. Und es bleibt die Frage zurück, ob unser Glaube zu unvollkommen ist, um Heilung, um Gelingen, um Gerechtigkeit zu erfahren. 

Als Arzt bin ich davon überzeugt, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patienten ein heilendes Potential entfaltet. Als Christ glaube ich zudem, dass in dieser zwischenmenschlichen Beziehung eine weitere Kraft wirksam werden kann – nämlich das Bewusstsein für die Gegenwart Gottes. „Denn, wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“, heißt es in der Bibel. Wir müssen diesem Bewusstsein und dieser Kraft Raum geben. Wenn wir mit den Augen des Glaubens schauen, bedeutet dies selbst gegenwärtig zu sein. Natürlich dürfen wir nicht erwarten, dass unser Dasein plötzlich Heilungswunder bewirkt. Aber wir dürfen darauf hoffen, dass die Kraft, die in der Dreierbeziehung zwischen Gott, Patienten und Ärztin verborgen ist und aktiviert werden kann, positiv auf die Heilungschancen einwirkt. Nicht weil uns unser Glauben etwa dazu befähigt, Wunder zu tun, sondern weil uns die Begegnung für die Möglichkeit öffnet, dass Gottes Gnade wirksam wird.

Dies bedeutet „Hoffnung“ auf Gott zu setzen. Das ist etwas für mich Charakteristisches – nicht nur für mich als einem evangelisch-lutherisch Christen, sondern auch für mich in meinem Beruf als Arzt. Luther fand die Antwort auf seiner Suche nach einem gnädigen Gott im Römerbrief: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Er handelt in unserer Lebensgeschichte, auch in unseren Leidens- und Krankengeschichten. Sein Heilsplan durchwirkt das Geschick der Welt. 

Lied: 

Udo Jürgens – Ich glaube (Gestern – heute – morgen Version 1996) 

Verse

Ich glaube, dass der Acker, den wir pflügen

Nur eine kleine Weile uns gehört

Ich glaube nicht mehr an die alten Lügen

Er wär‘ auch nur ein Menschenleben wert

Ich glaube, dass den Hungernden zu speisen

Ihm besser dient als noch so guter Rat

Ich glaube Mensch sein und es auch beweisen

Das ist viel nützlicher als jede Heldentat

Chorus

Ich glaube, diese Welt müsste groß genug

Weit genug, reich genug für uns alle sein

Ich glaube, dieses Leben ist schön genug

Bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen

Verse

Ich glaube, dass man die erst fragen müsste

Mit deren Blut und Geld man Kriege führt

Ich glaube, dass man nichts vom Krieg mehr wüsste

Wenn wer ihn will, ihn auch am meisten spürt

Ich glaube, dass die Haut und Ihre Farben

Den Wert nicht eines Menschen je bestimmt

Ich glaube, niemand brauchte mehr zu darben

Wenn der auch geben wird, der heut nur nimmt

Chorus

Ich glaube, diese Welt müsste groß genug

Weit genug, reich genug für uns alle sein

Ich glaube, dieses Leben ist schön genug

Bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen

Writer(s): Walter Brandin, Udo Juergens

 

„Wenn Dein Kind Dich in zwanzig Jahren fragt …“

 

„Ich glaube…“ Manche, vermutlich viele von Euch, werden diesen Worten von Udo Jürgens und Walter Brandin innerlich zustimmen. Ich habe sie wiederentdeckt vor gut einem Jahr, als ich einen Kassettenrekorder aus meiner Konfirmandenzeit auf dem Speicher fand. Udo Jürgens war für mich absoluter Schlager Mainstream, den man auch gerne mal laut hören durfte, wenn Erwachsene zu Hause waren. Und dennoch war spürbar, dass hier spitzfindige Kritik geübt wurde, wo mir die Erwachsenenwelt verstaubt und bedrückend vorkam – „aber bitte mit Sahne“. „Ich glaube…“ habe ich allerdings sehr konkret weiter mitgenommen u.a. auf den Kirchentag 1983 in Hannover – dem Ereignis mit den Lila Tüchern, dem Kirchentag der Friedensbewegung, auf dem ich die innerliche Überzeugung formen konnte, dass Glaube und Hoffnung keine identischen Vorstellungen sind, sondern dass der Glaube das Fundament in mir darstellt auf dessen Konkretion sich Hoffnung ausbildet. Wesentlich war die Erkenntnis, dass Hoffnung nicht identisch mit konkreten Erwartungshaltungen ist – so wie ich es oben für die Patientenbeziehung bereits erläutert habe. Ich komme auch später noch einmal darauf zurück. 

Die Friedensbewegung, die Lilatücher waren für mich die Initiation, um die Erlebnisse aus der Konfirmandenzeit, aus der Zeit des Abiturs und des Studiums anders in meine Lebenswirklichkeit zu integrieren: Als Teil einer Bewegung, als Teil der Kirchentagsfamilie. In dieser fühle ich mich bis heute in manchen Bereichen beheimatet. 

Die Gründungsmütter und -väter wollten mit dem Kirchentag eine Bewegung schaffen, die das christliche Menschenbild, die christlichen Wertüberzeugungen in eine moderne demokratische Gesellschaft hineinträgt und wachsam Fehlentwicklungen zurückspiegelt – damit sich niemals wiederholen möge, was die Tyrannei des nationalsozialistischen Unrechtsregimes in unserem Land hinterlassen hat. 

Aus diesem inneren Auftrag war es für meine Interpretation des Evangeliums wesentlich, darauf hinzuweisen, dass Frieden schaffen ohne Waffen, dass Versöhnung, Vergebung, aufrichtige Anteilnahme und Barmherzigkeit das Leben nicht nur von uns Einzelnen, sondern auch zwischen den Völkern dauerhaft bestimmen sollten und verbessern würden. Gegen die Ideologie der Falken in Brüssel, Bonn, Ost-Berlin, Washington oder Moskau, gegen die unverhohlenen Aufrufe, um der Stärke, um der Macht und des eigenen Vorteils willen andere zu erniedrigen, zu gefährden, zu opfern. War das blauäugig, naiv oder gar unverantwortlich? So wird es jetzt allenthalben beschrieben. Wie konntet Ihr nur – Gespräche führen, Verständigung suchen, Wandel durch Handel propagieren. Willy Brandt 1970 – der Bundeskanzler tritt während seines Besuches in Polen vor dem Ehrenmal der Toten des Warschauer Ghettos aus dem Scheinwerferlicht und er sinkt – auf seine Knie – ein Zeichen von Schwäche, Fehleinschätzung, Vaterlandsverrat. Das waren die Kommentare damals – und nur langsam wurden die schrittweisen Verbesserungen im Alltagsleben z.B. zwischen Menschen in beiden deutschen Staaten sichtbar – ohne aufgeregte Begleitmusik. Gab es eine Alternative zwischen den hochgerüsteten Militärblöcken das Land in der Mitte Europas zu sichern? 

„Mut zum Widerspruch“ – unsere Bibelstelle, die Geschichte der Syrophönizierin bestärkt uns darin. So wie die Friedensbewegten und Kirchentagsgemeinden in ihrem Bemühen recht behalten durften: Damit Ihr Hoffnung habt – die Losung des 2. Ökumenischen Kirchentages als Ausdruck einer Glaubensstärke, die überrascht die Menschen zurücklässt, wenn eine friedliche Revolution sich Bahn brechen kann. Die Welt hat sich verändert – ohne Mittelstreckenraketen. Christinnen und Christen haben an der friedlichen Revolution mitgearbeitet. Die Welt näher zusammengeführt. Freiheiten lebendig werden lassen, wo vorher Unterdrückung geherrscht hatte. 

Nun fragen nicht nur meine Kinder: wo erleben wir das in unserem Alltag heute noch konkret – sind da nicht im täglichen Leben beständig Ereignisse, die meinen Glauben in Frage stellen? In diesen Zeiten, in denen bis in unsere Nachbarschaft das Mitmenschliche mehr und mehr ad absurdum geführt hat und wie in Jesu Zeiten das Recht des Stärkeren unseren Alltag immer mehr bestimmt – kann ich da noch einen Heilsplan erkennen? Glauben quid absurdum? 

Ich gebe zu: mit Blick auf diese Tage im Mai 2025 zum 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag umfängt mich Trauer, Ratlosigkeit über das, was man befürchtet, geahnt hat, aber nicht wahrhaben wollte: dass der Mensch, trotz aller Möglichkeiten, trotz aller göttlichen Fügung, trotz aller Gnade nicht in der Lage ist, die Mördergrube seines Herzens zu befrieden. Es gibt heute wieder mehr Menschen, die meinen durch Niedertracht, Egoismus, Gewalttätigkeit, durch Demonstration der Stärke ihre eigene Position zu verbessern, auf Kosten anderer. 

Alle Lehren vergessen – alle Glaubensbewegungen umsonst? Wenn unsere Kinder uns fragen – alles vermasselt? „Wenn Dein Kind Dich morgen fragt…“ war die Losung des Kirchentages in Hannover 2005. 

Welche Fragen: Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? Wer ist das Menschenkind, dass Du Dich seiner annimmst? Wer bin ich in dieser immer schneller werdenden Welt, die mir so häufig Angst macht? Hatten wir auf diese Fragen nicht bereits Antworten gefunden? Ja, viele – häufig in unserem Inneren. Damals als Resümee: Der Kirchentag 2005 war friedlicher als in unserer kühnsten Erwartung. Er war fröhlicher, als ich es mir nach vielen, nicht ganz leichten Diskussionen in der Vorbereitung hätte vorstellen können. Er war auch sonnendurchflutet. Er war herzlicher, als ich es mir erhofft hatte. Er war inhaltsreicher als viele seiner Vorgänger und er war spiritueller, glaubensbezogener als es in der Geschichte der Kirchentage bisweilen aufschien. So kann, so soll es jetzt wieder sein: Lachen erlaubt, Stille möglich – wie auf den Kirchentagen zuvor kann auch in Hannover dieser Tage Segen gespendet werden für uns, für unsere Gesellschaft, für unser Land und die Schöpfung.

Der Aufgeregtheit, dem organisierten Chaos, der teuflischen Intrige und den selbstherrlichen Despoten entgegnen wir: wir widersprechen – so wie die Syrophönizierin in unserer Bibelstelle – wir werden uns nicht in die Angst treiben lassen – wir glauben und wir hoffen – unverdrossen! Wer glaubt wird bescheiden – sagt meine Tochter – in eine Bescheidenheit einzutreten, klärt die Gedanken, eine Bescheidenheit, die uns gut zu Gesicht steht als Menschen, die aus Gottes Gnade leben. Die Bescheidenheit und die innere Überzeugung verändern offenbar Jesu in seiner Sicht auf die Flehende. Die Welt kann sich ändern, heute wie damals: heute, in dem wir das aufhalten, was wir 2005 nur befürchtet, aber noch nicht gesehen haben. 

Nun fragen nicht nur meine Kinder: wo erleben wir Gottes Gnade konkret – sind da nicht im täglichen Leben beständig Ereignisse, die meinen Glauben in Frage stellen? In diesen Zeiten, in denen bis in unsere Nachbarschaft das Mitmenschliche mehr und mehr ad absurdum geführt hat und wie in Jesu Zeiten das Recht des Stärkeren unseren Alltag immer mehr bestimmt – kann ich da noch einen Heilsplan erkennen? Glauben quid absurdum? In Christi Nachfolge leben?

Du musst genau hinschauen – antworte ich: gestern z.B. der Abend der Begegnung mit einem Lichtermeer am Leibniz-Ufer und Menschen, die gestern wie zu den früheren Kirchentagen miteinander verbunden sind, indem sie das Licht einander weitergeben, miteinander singen, miteinander schweigen und so die Welt zum Leuchten gebracht haben. Wir können und müssen an unseren jeweiligen Orten dazu beitragen Kraft zu gewinnen für die Gestaltung der Zukunft. 2005 stand diese Gestaltungskraft unter der Überschrift „Armut ist keine Tragödie – Armut ist heute ein Skandal!“. Oder: „Globalisierung ist kein Schicksal, sondern ein von Menschen gewollter Prozess, der von den Menschen auch gestaltet werden muss“. 

Wir haben damals die Vorstellung entwickelt, dass der Globalisierung der Märkte, eine Globalisierung der Herzen hinzugefügt werden muss, mit der Bereitschaft, eine bessere Welt zu schaffen, in der Menschen miteinander teilen, in der Menschen sich verbinden, indem sie in ihrer kulturellen und spirituellen Vielfalt miteinander leben lernen. Sind wir gescheitert? Haben wir uns verzettelt in Kleinteiligkeit und Nebensächlichkeit, weil wir uns aus unseren jeweiligen Komfortzonen nicht herausbewegen wollten. Ich denke ja! Der Kompass scheint nicht mehr zu funktionieren – oder haben wir den Kompass in Selbstüberschätzung einfach zurückgelassen, weil wir glaubten auf den Turm des Glücks ohne Gottes Hilfe klettern zu können?

In meiner kleinen Welt der Gesundheitsversorgung, der universitären Ausbildung, der Gestaltung von Ordnungen für die Gesellschaft durch Gesetzgebung im Sozialen haben wir aufgrund vielfältiger Herausforderungen, wie beispielsweise durch die Pandemie die Richtung verloren: mehr und mehr die Fähigkeiten eingebüßt aneinander zu glauben, einander zu vertrauen, stattdessen begonnen uns beständig zu kontrollieren, weil wir immer weiter in die Ich Zentrierung gegangen sind und verdrängt haben, dass, wenn es um konditionale Güter wie Gesundheit, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit geht, die Menschen nicht alleine handeln, sondern auf Gottes Gnade angewiesen bleiben. 

Nicht wir sind, sondern Gott ist das Maß aller Dinge. 

Das sagt uns das Markusevangelium – und zugleich macht es deutlich, dass es auf jede, jeden Einzelnen ankommt und dessen Entscheidung. Martin Luther würde diese Entscheidung unserem Gewissen zuordnen. Lasst uns zum Kirchentag 2025 unser Gewissen schärfen, lasst uns gemeinsam aufbrechen in der Überzeugung, dass es auf jede und jeden von uns ankommt. Jede und jeder ist jetzt wichtig aufgrund der permanenten Verletzung unserer Gebote, mit jeder Negierung der Nächstenliebe, mit jeder Gewalttat, mit jeder Kriegsdrohung, mit jedem Säbelrasseln. 

Was antworten wir, wenn unsere Kinder uns heute – also nach zwanzig Jahren fragen: Was habt ihr uns eigentlich hier überlassen? 

Übergang mit einem Lied: 

Reinhard Mey – Narrenschiff

Verse 1

Das Quecksilber fällt, die Zeichen stehen auf Sturm

Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm

Und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine

Und Rollen und Stampfen und schwere See

Die Bordkapelle spielt: Humbatätärä

Und ein irres Lachen dringt aus der Latrine

Die Ladung ist faul, die Papiere fingiert

Die Lenzpumpen leck und die Schotten blockiert

Die Luken weit offen und alle Alarmglocken läuten

Die Seen schlagen mannshoch in den Laderaum

Und Elmsfeuer züngeln vom Ladebaum

Doch keiner an Bord vermag die Zeichen zu deuten

Chorus

Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken

Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken

Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken

Der Funker zu feig‘ um SOS zu funken

Klabautermann führt das Narrenschiff

Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

Verse 2

Am Horizont Wetterleuchten: die Zeichen der Zeit

Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit

Auf der Brücke tummeln sich Tölpel und Einfallspinsel

Im Trüben fischt der scharfgezahnte Hai

Bringt seinen Fang ins Trockne, an der Steuer vorbei

Auf die Sandbank bei der wohlbekannten Schatzinsel

Die andern Geldwäscher und Zuhälter, die warten schon

Bordellkönig, Spielautomatenbaron

Im hellen Licht, niemand muss sich im Dunklen rumdrücken

In der Bananenrepublik wo selbst der Präsident

Die Scham verloren hat und keine Skrupel kennt

Sich mit dem Steuerdieb im Gefolge zu schmücken

Chorus

Verse 3

Man hat sich glattgemacht, man hat sich arrangiert

All die hohen Ideale sind havariert

Und der große Rebell, der nicht müd wurde zu Streiten

Mutiert zu einem servilen, giftigen Gnom

Und singt lammfromm vor dem schlimmen alten Mann in Rom

Seine Lieder, fürwahr! Es ändern sich die Zeiten

Einst junge Wilde sind gefügig, fromm und zahm

Gekauft, narkotisiert und flügellahm

Tauschen Samtpfötchen für die einst so scharfen Klauen

Und eitle Greise präsentieren sich keck

Mit immer viel zu jungen Frauen auf dem Oberdeck

Die ihre schlaffen Glieder wärmen und ihnen das Essen vorkauen

Chorus

Verse 4

Sie rüsten gegen den Feind, doch der Feind ist längst hier

Er hat die Hand an deiner Gurgel, er steht hinter dir

Im Schutz der Paragrafen mischt er die gezinkten Karten

Jeder kann es sehen, aber alle sehen weg

Und der Dunkelmann kommt aus seinem Versteck

Und dealt unter aller Augen vor dem Kindergarten

Der Ausguck ruft vom höchsten Mast: "Endzeit in Sicht"

Doch sie sind wie versteinert und sie hören ihn nicht

Sie ziehen wie Lemminge in willenlosen Horden

Es ist, als hätten alle den Verstand verloren

Sich zum Niedergang und zum Verfall verschworen

Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer geworden

Chorus

Chorus

Writer(s): Reinhard Mey

 

Diabolo – Das Teuflische in der Welt

 

„Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff!“

Zum 80. Todestag von Dietrich Bonhoeffer ist es kaum erträglich sich die momentane Weltlage anzusehen. Man könnte am Glauben (ver-)zweifeln.

Ja, es fällt schwer sich vorzustellen, dass selbst ein Mensch wie Dietrich Bonhoeffer – einem der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, der wegen seines Widerstands gegen das Hitler-Regime im oberpfälzischen Flossenbürg hingerichtet wurde – heute zu einer Interpretation für Gewalt und für Ausgrenzung werden kann. Der neue Bonhoeffer Film aus den Vereinigten Staaten (Titel im Original: Bonhoeffer: Pastor. Spy. Assassin 2024) zeigt eindrucksvoll wie wirkmächtig die Deutungen des Wortes auch im negativen Sinn sein können.

Dieser geradezu grotesk anmutende „freie“ Umgang und weitere (Um-)Deutungen im Sinne der eigenen Positionierung lassen die ganze Welt mehr und mehr wie ein einziges „Diabolo“ erscheinen – aus dem Altgriechischen διαβάλλειν diabállein für das ‚Durcheinanderwerfen‘, ‚Hinüberwerfen‘. Fällt Euch ein Bild ein, ein Raum, in dem gerade täglich die ganze Welt durcheinandergeworfen wird? Das Oval Office. Es trägt das Diabolische in sich. Gut sich daran zu erinnern, wie Jesus einst mit den Versuchungen des Diabolo in der Wüste umgegangen ist – er hat nicht alles Gold der Erde haben wollen, er hat die Macht über alle Länder abgelehnt, er hat sich nicht von der Klippe gestürzt und seinen Vater herausgefordert.

Der Durcheinanderwerfer will uns irritieren – Das Gute wird zum Bösen. Die Worte und ihre Bedeutungen werden vermischt und umgedreht: 

Einheit ist Vielfalt. 

Abschottung ist Sicherheit. 

Kontrolle ist Freiheit. 

Krieg ist Frieden. 

Der Faschismus in unseren Gesellschaften nimmt zu. Überall werden die Stimmen nach „neuer Stärke“ und „Kampf“ laut. 

Die Diskussionen in und um unsere Gesellschaften verengen sich. Die Multiperspektivität, hier verstanden als Auf- und Annahme anderer Sichtweisen – angesprochen in unserem heutigen Bibelvers – werden in eine „Schwarz-/Weiß“-Ansicht überführt. Es gibt immer häufiger nur „Wir oder Die!“ sowie „Dafür oder Dagegen!“. Die Zwischentöne, das Dazwischen-Sein wird verneint, angegriffen und entwertet. Gerade das Beispiel „Corona-Pandemie“ und deren fehlende Aufarbeitung zeigt dies leider sehr eindrücklich. Die Argumente und notwendigen Schritte werden durch immer neue Wiederholungen verstreut und ein konstruktiver Diskurs wird erschwert oder findet überhaupt nicht mehr statt. Nur „eine“ Perspektive, die „richtige“, zählt und ist auch „erlaubt“. Dies gilt selbst bei grauenvollen, komplexen und lange währenden Konflikten und Kriegen wie in der Ukraine oder zwischen Israel und den Palästinensern.

 

In solchen Situationen wird aus der Einseitigkeit der Argumentation auch ein Verlust des Wertefundamentes, auf dem wir Christinnen und Christen stehen: natürlich ist die Sichtweise einer Generation, die geprägt durch Konflikte und Krieg traumatische Lebenserfahrungen gemacht hat, grundsätzlich anders, als die einer Generation, die konkrete Auseinandersetzungen gar nicht kennt. Woran soll man sich noch orientieren, wenn die grundlegenden Werte völlig unberechenbar interpretiert und eingesetzt werden. 

Die Gräben zwischen den verschiedenen Argumentationslinie werden immer tiefer, indem Krieg und Zerstörung dann gerechtfertigt werden, wenn dadurch meine Interessen geschützt oder befördert werden. Dann ist es auch nicht mehr weit, die Waffen zu segnen und um Gottes Unterstützung zu erbitten, um diejenigen, die man als Feind identifiziert hat, zu vernichten. 

Es braucht also Orientierung – entweder durch die Lektüre zentraler Bücher – wie z.B. der Bibel – oder durch Vorbilder, die Beispiel geben können. Dabei ist es besonders schwer, nicht nur zwischen verschiedenen Perspektiven Schnittstellen zu identifizieren, sondern auch zwischen den Generationen Kompromisse in der Interessenslage auszudiskutieren. Vermeintliche Gegensätze wie die historische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland versus den allgemeinen humanistisch geäußerten Perspektiven und Positionen der jungen Generationen müssen überwunden werden, wenn wir in gleicher Weise unser Wertegerüst definieren bzw. verteidigen wollen.

Eine Verständigung zwischen den Generationen auf gemeinsame Werte und Wertorientierungen ist notwendig, um tatsächlich Verantwortung weiter tragen zu können. 

Ich möchte diese Notwendigkeit in einem Satz zusammenfassen, der sich auf Jesu Handeln in Kanaan bezieht: „Das Wasser unseres Lebens in die Krüge des Glaubens füllen“. Füllt das Wasser Eures Lebens in die Krüge des Glaubens – und sie wandeln sich in Hoffnung. 

Dieser Erkenntnis könnte die Kurzformel für unser heutige Bibelstelle sein. Das Leben ordnen – die Herausforderungen unserer Realität annehmen – sich nichts vormachen lassen – die innere Überzeugung und Wertorientierung nicht aufgeben (Studierende lernen ihr Menschenbild). Dieses Handeln, diese Mitmenschlichkeit ist eine innere Pflicht und Freude: dass diese nicht speziell für eine geraume Zeit gegeben sind, sondern immer wieder neu erworben werden müssen, lernen wir gerade. 

Die Hoffnung kann uns hierbei die Einsamkeit nehmen. Aber Hoffnung bedeutet nicht (direkte) Erwartungen zu haben oder gar erfüllen zu müssen. Hoffnung selbst ist eine grundlegende Lebensenergie. Diese Gottesperspektive gibt uns gerade in dieser Zeit, in der wir immerzu von einem Verlust der Transzendenz umgeben scheinen und alles Übergeordnete in das Materielle gezogen werden muss – Hoffnung. Glaube, Liebe, Hoffnung – diese drei… waren auch der Schlüssel für Vorbilder wie Dietrich Boenhoeffer.

Wir singen gemeinsam „Von guten Mächten treu und still umgeben“.

Abschlusslied:

Dietrich Bonhoeffer / Siegfried: Von guten Mächten 

Von guten Mächten treu und still umgeben

behütet und getröstet wunderbar

so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das Alte unsre Herzen quälen

noch drückt uns böser Tage schwere Last.

Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

das Heil, für das du uns bereitet hast.

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bitter‘n

des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand

so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern

aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken

an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz

dann woll‘n wir des Vergangenen gedenken

und dann gehört dir unser Leben ganz.

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen

die du in unsre Dunkelheit gebracht

führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.

Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet

so lass uns hören jenen vollen Klang

der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet

all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Writer(s): Dietrich Bonhoeffer / Siegfried Fietz (Performanz: David Brylka)


Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.