Dr. Christina Ernst, blinde Pastorin, Hannover
Wie fühlt es sich an, gesegnet zu sein?
Seit einigen Wochen mache ich regelmäßig Boxübungen. Dazu bandagiere ich mir meine Handgelenke. Dann ziehe ich Boxhandschuhe an und dann geht es ans Wandschlagkissen. Oft stehe ich davor mit hängenden Schultern. Ich fühle mich müde und erschöpft. Seit vier Jahren bin ich immer wieder im Krankenhaus, gehe von einer Therapie in die andere. Es ist eine Zeit, in der ich versuche, besonders intensiv zu leben. Aber manchmal fühle ich mich einfach nur unendlich müde. Und dann stehe ich da mit meinen Boxhandschuhen. Meine Trainerin liebt es, mir zuzuschauen. Denn wenn ich auf das Wandschlagkissen schlage, beginne ich sofort zu strahlen. So von innen heraus. Auf einmal ist wieder Feuer in mir. Meine Augen leuchten. Ich spüre in mir – Lebenskraft, Lebensfreude, auch einen inneren Fokus und Entschlossenheit. Ich liebe es, wenn es knallt, je lauter, desto besser. Das geht gut mit Boxhandschuhen und Wandschlagkissen, aber auch bei Schlagübungen Frau gegen Frau. – Was hat das mit Gott zu tun und damit, Gottes Segen zu spüren?
Segnen, das heißt, jemandem etwas Gutes zu wünschen. Ein Segen ist ein Wunsch, der Wirkung entfaltet. Er wirkt auf eine Art, die über unser menschliches Tun hinausgeht. Gesegnet werden, das heißt: Etwas von Gottes Macht, Kraft und Liebe empfangen. Segen ist Lebenskraft. Ich bekomme Kraft von Gott, sie wird zu meiner Lebenskraft. So geht es mir beim Boxen. Vor dem Wandschlagkissen mit meinen Boxhandschuhen spüre ich das: Da bekomme ich mit jedem Schlag innere Kraft, auch Lebensfreude.
Vor einer Woche habe ich mir ein Hospiz angeschaut. Ich habe mich gefragt: Ist das ein Ort, an dem ich mich gut aufgehoben fühle? Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie ich vielleicht schon in einigen Monaten hier liege und mich auf das Sterben vorbereite. Hoffentlich ist es noch nicht ganz so bald. Es ist verrückt zu wissen: Meine Lebenszeit ist sehr begrenzt. Es gibt nur kaum noch gute Therapiemöglichkeiten für mich. Ich versuche, mich vorzubereiten. Ich spüre Angst und Unsicherheit. Und dann wieder feiere ich dieses großartige Leben – dass ich zum Beispiel hier auf so einer großen Bühne stehe und meine Gedanken mit euch teilen kann. Wie cool ist das! Beides gehört zusammen, meine Lebensfreude und die Angst um mein Leben. Beides miteinander ist Lebensfülle. Aber oft fühle ich mich erschöpft und weiß echt nicht, woher ich jetzt noch Kraft nehmen soll. Und dann steigt sie doch in mir auf und ich spüre wieder so ein inneres Strahlen. Ich bin dankbar dafür, immer wieder solche Lebenskraft geschenkt zu bekommen. Für mich ist das Segen Gottes, Gottes Geistkraft in mir. Ein großes Geschenk.
Der Schlüssel zu dieser Segenskraft kann ganz unterschiedlich aussehen. Für mich ist boxen ein solcher Schlüssel, der mir Zugang zu positiver Energie gibt. Wie sehen eure Schlüssel aus?
Vielleicht völlig anders als boxen! Zum Beispiel: in die Stille gehen. Schweigen und sich bewusst eine Auszeit nehmen von allem, was von außen ständig auf uns einprasselt an Erwartungen, an Informationen, Optionen, Faszinationen, Reflexionen – einfach Stille, frei werden für Gott. – Ein anderer Schlüssel ist die Musik. Gerade hier auf dem Kirchentag erleben wir, wie mitreißend es ist, gemeinsam zu musizieren und zu singen oder anderen zu lauschen. Musik setzt so viel Lebenskraft frei, lässt verschiedenste Gefühle durch mich hindurchströmen. Großartige Segensmomente!
In der Bibel gibt es viele Segensgeschichten. Eine davon erzählt auch von einem Kampf. Einem Boxkampf oder Ringkampf, auf jeden Fall geht es da mächtig zur Sache zwischen zwei Männern (1. Mose 32,23-33). Die schenken sich nichts. Einer davon ist Jakob. Der andere ist – man weiß es nicht so genau: Vielleicht ist es Gott oder ein Bote Gottes. Er begegnet Jakob nachts, als er den Fluss Jabbok überqueren will. Es ist dunkel. Jakob erkennt nicht, wer ihn da überfällt. Die beiden kämpfen miteinander. Sie sind ungefähr gleich stark. Schließlich, nach einer ganzen Nacht bittet der andere: Jakob, lass mich gehen. Jakob ist überlegen. Aber er sagt: Ich lasse dich erst gehen, wenn du mich segnest. Also: Ich lasse dich erst gehen, wenn du mir etwas von dir, von deiner Kraft gibst! – Wie geht der Kampf aus? –
Jakob bekommt den Segen. Er bekommt aber auch einen Schlag auf die Hüfte. Am nächsten Morgen hinkt er. Seine Hüfte ist verrenkt. Jakob bekommt auch einen neuen Namen: Israel. Das kann man übersetzen als: Der gegen Gott kämpft. Es gibt aber auch die Übersetzung: Gott geht mit. – Gott geht mit, bei jedem hinkenden Schritt. Gott segnet Jakob, gibt ihm Lebenskraft.
Sichtbar wird das, indem Jakob unregelmäßig läuft. Eine körperliche Einschränkung als Segenserfahrung. – Stark, oder?!
Nun erlebe ich selbst immer wieder, dass Menschen mir irgendwie besondere Kräfte zuschreiben, weil ich blind bin. Das hört sich dann so an: Du kannst zwar nicht sehen, aber dafür hast du ein besonderes Gespür. Du siehst mehr als wir mit unseren Augen. Diese Idee ist uralt. Schon die Griechen erzählten von Kassandra, der blinden Seherin. Sie war mit der göttlichen Sphäre verbunden und konnte die Zukunft vorhersagen.
Das kann ich nicht! Ich habe auch keine anderen übermenschlichen Fähigkeiten. Und mir ist ganz wichtig, dass es hier keine Missverständnisse gibt: Bestimmte Herausforderungen in unserem Leben sind kein Zeichen von Gott, weder eine Strafe Gottes für irgendein Fehlverhalten noch ein Zeichen, dass jemand von Gott auserwählt ist. Das wäre zu einfach. Bleiben wir mal bei Jakob. In dieser Geschichte geht es um seine persönliche Begegnung mit Gott. Wir erinnern uns: Jakob hat den Segen Gottes schon. Er hat ihn sich erschlichen durch einen Betrug. Eigentlich sollte sein Zwillingsbruder Esau den Segen Gottes vom Vater Isaak erben. Jakob hat dann ausgenutzt, dass Isaak im Alter blind geworden war. Er hat seinen Vater und seinen Bruder übers Ohr gehauen, sich den Segen gestohlen. Vielleicht kämpft er jetzt mit seinem schlechten Gewissen. Viele interpretieren die Geschichte vom Kampf am Fluss Jabbok als Kampf mit den eigenen inneren Abgründen. Auf Jakob würde das gut zutreffen. Er macht für sich persönlich die Erfahrung: Gott geht mit. Ich spüre ihn bei jedem Schritt. Ich spüre Gott, weil ich, Jakob, nicht rund laufe. Ich spüre, dass mein Leben nicht allein in meiner Hand liegt. Gott zeigt mir meine Grenzen auf. Gott ist einer, an dem ich mich abarbeite, zu dem ich nicht einfach ja und amen sagen kann. Gott stellt sich mir in den Weg und sagt: Stopp! Bis hierher und nicht weiter!
Wie oft arbeite ICH mich an Gott ab! Vorhin habe ich euch von meiner derzeitigen Lebenssituation erzählt. Oft stehe ich da und denke: Jetzt brauche ich Gott. Jetzt komme ich selbst nicht weiter. Wenn ich dann zu Gott bete und mit ihm spreche, ist es nicht gemütlich und kuschelig. Dann sag ich: Was mutest du mir hier eigentlich zu, Gott? Ich sitze hier richtig tief im Schlamassel. Und ich sage: Wenn du mich schon durch den Dreck schickst, dann musst du auch mit mir mitkommen. Dann musst du dich auch dreckig machen und mein Leben mit mir aushalten, wo es schmerzhaft und ungemütlich ist.
Dietrich Bonhoeffer hat mal gesagt sinngemäß: Gott gibt uns die Kraft, um Herausforderungen zu bestehen. Er gibt sie uns nicht vorher, sondern genau dann, wenn wir sie brauchen. Für mich passt das zum Boxen: Gott hält mir seine Hände in Boxhandschuhen entgegen und ich kann mit aller Kraft dagegen schlagen. Mit jedem Schlag spüre ich: Gott ist mir ein Gegenüber, der hält was aus. Oder: Sie hält etwas aus, nämlich mich. Ich bin nicht allein. Und dann wandeln sich meine Erschöpfung und Mutlosigkeit in Energie und Lebenskraft. Da knallt es ordentlich zwischen mir und Gott und ich spüre: Yes, Gott ist da, der weicht mir nicht aus und der verkrümelt sich nicht, wenn es ungemütlich wird. Gott geht mit mir mit!
Jakob spürt Gott in seiner steifen Hüfte. Ich spüre Gott, wenn ich mit meinem Blindenstock unterwegs bin. Gott gibt mir Lebenskraft dort, wo ich sie besonders brauche. Und deshalb kann ich sagen: Gerade dort, wo es im Leben hart wird, spüre ich Gottes Segen.
Als Pastorin durfte ich vielen Menschen Gottes Segen mitgeben: bei der Taufe, der Konfirmation, den Trausegen für Ehepaare, Segen zur Einschulung und beim Abschluss der Schule, Segen am Ende des Lebens. Segen zum Abschluss jedes Gottesdienstes oder auch nach einer Tagung: Gott sei mit dir und gebe dir Lebenskraft. Jede und jeder von uns braucht diesen Segen. Jede und jeder von uns kann solchen Segen anderen weitergeben. Dazu braucht es nicht die klassischen Worte, die wir in der Kirche sprechen und hören. Manchmal ist es ein „Ich wünsche dir alles Gute.“ Und eine Umarmung, ein fester, langer Händedruck. Oft wird Segen auch ganz ohne Worte weitergegeben. Durch eine Berührung, einen Blick, ein gemeinsames Schweigen, einen Teller Suppe oder eine Bettdecke, die jemand fürsorglich um dich feststeckt. Immer sind es andere Menschen, die uns Lebenskraft geben. Für mich wird darin Gottes Segen spürbar.
Ich bin mir sicher, diese riesige Messehalle hier ist voll von Segen. Ihr alle tragt Segensgeschichten in euch. Mit jeder und jedem von euch wird Gottes Segen wahr in eurem Handeln, in eurer Fürsorge und Beistand für andere.
Zum Abschluss erzähle ich euch noch eine Segensgeschichte, die ich in mir trage: Vor vier Jahren stand ich vor einer großen Operation. In meinem rechten Auge war ein bösartiger Tumor entdeckt worden. Nun musste ein Teil meines Gesichtes weggeschnitten und durch anderes Muskel- und Hautgewebe ersetzt werden, um mein Leben zu retten. Ich hatte große Angst und fühlte mich schutzlos. Eine sehr enge Freundin war bei mir im Krankenhaus. Ganz spontan nahm sie ihren pinken Lippenstift und zeichnete mir damit ein Herz in meine rechte Hand. Sie sagte: Damit sie wissen, dass du ein Mensch bist, dass es so viele Menschen gibt, die dich lieben und die dich wiederhaben wollen. – Ihr Herz gab mir Kraft. Ich konnte etwas mitnehmen in den Op, fühlte mich nicht allein. Vor der Narkose zeigte ich dem Personal das Herz und sagte: Das ist ein Gruß an Sie. Damit Sie gut auf mich aufpassen. Und: Damit Gott uns allen Kraft gibt, damit das hier gut wird. – Die Operation dauerte 16 Stunden. Als ich danach wieder aufwachte, war das Herz in meiner Hand immer noch da. (Pause)
Das ist meine Segensgeschichte. Was ist eure?
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.