Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

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Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 11.00 Uhr

Fr
11.00–13.00
in Deutscher Gebärdensprache mit Untertitelung
Zentrum Generationengerechtigkeit | Podium
Who cares?
Private Sorge- und Pflegearbeit sichtbar machen
Dr. Ina Praetorius, Theologin und Autorin, Wattwil/Schweiz

Was brauchen wir, um sachkundig über die (Un-)Sichtbarkeit der unbezahlten Sorge- und Pflegearbeit diskutieren zu können?
Ich werde in meinem 15-Minuten-Impuls drei Fragen stellen und beantworten:
1. Was soll sichtbar werden?
2. Was heisst «Sichtbarkeit»?
3. Warum und wozu soll unbezahlte Sorgearbeit sichtbar werden?

1. Was soll sichtbar werden?

Sichtbar werden muss der größte, der tragende Wirtschaftssektor.
Mit Statistik will ich mich und euch nicht lange aufhalten. Daher zur Quantität der privaten Sorge- und Pflegearbeit nur zwei Zitate: eins zur Situation in Deutschland, eins zur globalen Situation:

Das erste Statement stammt von der emeritierten Ökonomieprofessorin Uta Meier-Gräwe:

«Durch Erhebungen des Statistischen Bundesamts wissen wir: Frauen in Deutschland leisten jährlich 60 Milliarden Stunden - allein an unbezahlter Hausarbeit. Der Geldwert dieser Arbeit, legt man anteilig den Durchschnittslohn einer Hauswirtschafterin, Köchin und Erzieherin zugrunde, würde jährlich etwa 830 Milliarden Euro betragen. Das ist fast so viel wie Bund, Länder und Gemeinden pro Jahr an Ausgaben tätigen. Wenn man zur unbezahlten die meist unterbezahlte Sorgearbeit in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Kitas hinzuzählt, ist dieser Bereich der größte Wirtschaftssektor. Leider bildet sich das weder in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung noch im Bruttoinlandsprodukt ab, das als Wohlstandsmaß eines Landes gilt.»[1]

Das zweite Zitat stammt von der Entwicklungsorganisation Oxfam:

«Frauen und Mädchen leisten den Löwenanteil unbezahlter Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit – weltweit pro Tag ... über 12 Milliarden Stunden. Dies entspricht einem Gegenwert von über 11 Billionen US-Dollar pro Jahr, würden diese auch nur zum Mindestlohn bezahlt; 14mal mehr als der Umsatz der Tech-Riesen Apple, Google und Facebook zusammen.»[2]

Es geht also um viel, um sehr viel un- und unterbezahlte Arbeit. Diese Arbeit subventioniert täglich das, was sich «die Wirtschaft» nennt, also die geldvermittelte, heute meist kapitalistisch organisierte Produktion von Gütern und Dienstleistungen.

Um welche Tätigkeiten handelt es sich?
Es geht im Wesentlichen um Dienstleistungen und Produkte, ohne die kein Mensch leben kann. Oder hättet ihr als Babies ohne die unbezahlte Arbeit eurer Betreuungspersonen überlebt?
Es geht um Nähren, Reinigen, Aufräumen, Schützen, Begleiten, Pflegen, Zuhören, Hausaufgaben betreuen, Homeschooling und so weiter. Meist in Privathaushalten, oft auch in Nachbarschaften oder Verwandtschaftsnetzen. Ich kann es auch so sagen: Es geht um die Herstellung und Instandhaltung von Menschen. In der Sprache der gängigen Wirtschaftswissenschaft ausgedrückt: um die Herstellung und Instandhaltung von Humankapital, von Arbeitskräften und Konsument:innen.

Oft höre ich, die Sorge-Arbeit, also das, was wir in internationalen Kontexten heute Care-Work nennen, die sei doch nicht messbar, da gehe es doch um selbstverständliche gegenseitige Hilfeleistung, um Liebe.[3]
Es ist aber Fakt, dass die Haushaltsproduktion längst gemessen wird. Weil sie eben Arbeit ist. Sie kostet, wie jede Arbeit, Energie und Zeit. Und sie ist sehr ungerecht verteilt: zwischen den Geschlechtern vor allem, aber auch zwischen Klassen und Herkünften.

Wenn bei der Arbeit Liebe mitspielt, dann ist das natürlich umso besser. Liebe bei der Arbeit darf aber nicht als Argument missbraucht werden, um bestimmte Arten von Arbeit unsichtbar und damit ausbeutbar zu machen. Bis heute wird Care-Arbeit nämlich, wie wir schon von Uta Meier-Gräwe gehört haben, weitgehend verschwiegen, verharmlost und für den Profit anderer benutzt.
Auf ökonomisch sagt man: Sie wird «externalisiert».[4]
Ganz ähnlich übrigens wie die Leistungen der außermenschlichen Natur.

Wenn sich jemand dumm stellt, frage ich deshalb zurück:
Soll ich es «Liebe» nennen, wenn ich für meine Familie das Klo putze oder schwere Einkaufstüten nachhause schleppe?
Und umgekehrt: Machen denn die Leute in gut bezahlten Jobs, zum Beispiel Ärztinnen oder Professoren oder Bankerinnen, ihre Arbeit ganz ohne Liebe? Weil sie Geld dafür bekommen?
Das wäre bedenklich. Darüber müssten wir reden.

Am 15. Mai 2023 ist im Alter von 92 Jahren eine Pionierin der globalen CareÖkonomie gestorben: die Sozialwissenschaftlerin Maria Mies.
Maria Mies hat uns damals, in den 80er Jahren, die Augen geöffnet für das riesige Volumen und die Bedeutung der unbezahlten Arbeit.
Das Ganze der Wirtschaft hat sie als einen Eisberg dargestellt, von dem nur die Spitze aus Geldwirtschaft, also aus Kapital und regulärer Lohnarbeit, sichtbar ist.
Unter der Wasseroberfläche liegen die vielen Leistungen, ohne die es weder Kapital noch Lohnarbeit gäbe: die Leistungen vor allem von Gratis-Hausarbeiter:innen, von Kleinbäuer:innen in Ex-Kolonien, von unregulierten Arbeitskräften und von der Natur.[5]

Zusammengefasst heißt die Antwort auf meine Frage Nummer 1:
Sichtbar werden muss die unverzichtbare Basis jeder Volkswirtschaft: die Haushaltsproduktion, die unbezahlte Care-Arbeit, samt ihrem Umfeld, der unterbezahlten Care-Arbeit.

Mit dem Bild vom Eisberg komme ich zu meiner zweiten Frage:

2. Was heißt «Sichtbarkeit»?

Zu dieser Frage erzähle ich euch eine Geschichte:

Am 21. August 2021 habe ich einen Brief an Sebastian Matthes geschrieben. Das ist der derzeitige Chefredakteur des Handelsblatts.[6]
Vorher hatte ich ein Jahr lang monatlich Kolumnen im Handelsblatt publiziert. Ich habe Sebastian Matthes vorgeschlagen, in seiner Zeitung eine neue ständige Rubrik einzurichten, die «Das Ganze der Wirtschaft» heißt.
Ich zitiere aus meinem Brief:

«In dieser neuen Rubrik werden sich Fachleute unterschiedlicher Disziplinen und Berufsgattungen zu aktuellen Ereignissen, zu Forschungsvorhaben und – resultaten, zu Fortschritten der Politik und der Erwerbswirtschaft bei der Integration des größten Sektors ins gemeinsame Wirtschaften äußern.»

Am 17. November, am 8. Dezember 2021 und mehrfach per Twitter habe ich nachgefragt, ob der Brief angekommen sei und ob ich wohl eine Antwort bekommen werde.
Aber bis heute, inzwischen fast zwei Jahre lang, habe ich nichts von Sebastian Matthes gehört. Und bis heute gibt es keine ständige Rubrik «Das Ganze der Wirtschaft» im Handelsblatt.

Was lernen wir aus dieser Geschichte zur Frage der Sichtbarkeit von Sorgearbeit?

Erstens: Wir sind heute glücklicherweise nicht mehr an dem Punkt, an dem es um Sichtbarkeit an sich geht. Sorgearbeit ist ja nicht immer und überall unsichtbar. Zum Beispiel sehe ich, wenn mein Mann den Müll entsorgt. Und in feministischen Medien ist die unbezahlte Arbeit schon lange sichtbar, verstärkt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Heute geht es darum, dass das Ganze der Wirtschaft dort sichtbar wird, wo die Macht sitzt: in Regierungen, Parlamenten, Gewerkschaften, in der Wirtschaftswissenschaft, in Lehrbüchern, im Bruttoinlandsprodukt und eben: im Handelsblatt, in ARD und ZDF und anderen sogenannt «großen» Medien.

Zweitens: Sichtbarkeit zielt auf Veränderung. Wenn ich vorschlage, dass die unbezahlte Arbeit in den Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft aufgenommen und in volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen beziffert wird, dann geht es darum, den Blick gemeinsam öffentlich auf das zu richten, was unser Zusammenleben trägt und ermöglicht.
Wozu? Damit das Zusammenleben gerecht und enkeltauglich wird.
Ohne Care-Arbeit gibt es nämlich keine Menschen. Und ohne Menschen braucht es keine Wirtschaft.[7]

In der Pandemie haben wir ein wichtiges Wort gelernt: Systemrelevanz. Das Systemrelevante, genauer: das Ökosystemrelevante muss dorthin gerückt werden, wo es hingehört: in die Mitte. Und dann müssen wir das Ganze, also unser globales Zusammenleben, entsprechend neu einrichten.

Und damit wäre ich bei meiner dritten Frage angekommen:

3. Warum und wozu muss Care sichtbar werden?

In Deutschland gibt es seit 2014 ein Netzwerk, das sich Care-Revolution[8] nennt. Ich selber bin seit 2015 in der Schweiz mit einer postpatriarchalen Denk- und Handlungswerkstatt unterwegs. Sie heißt Wirtschaft ist Care.[9]
In Österreich gibt es ein wachsendes Netzwerk FairSorgen![10]

Mit solchen Namen wollen wir sagen, dass es in der ganzen Weltwirtschaft um nichts anderes geht, als dass wir Menschen füreinander sorgen.
Gerade komme ich von einer Konferenz, bei der es um die Vernetzung der vielen und immer mehr werdenden Care-zentrierten politischen Initiativen ging.[11]
Vor ein paar Wochen ist auch unser Buch zur Vernetzung und Stärkung der Care-Bewegung erschienen.[12]

Warum braucht es diese globale Bewegung?
Weil die Sorge für uns selbst, füreinander und für die Welt die Mitte allen Wirtschaftens ist oder wieder werden muss, wenn wir als Menschheit eine Zukunft haben wollen.
Wir nehmen wieder wahr, dass wir alle voneinander abhängig sind.
Und von der Natur, weil wir selbst Natur sind. Und wir erkennen, dass wir frei sind, unser Leben auf dem Planeten Erde entsprechend einzurichten.
Das ist überlebenswichtig. Ökologische und Care-zentrierte politische Ökonomie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Zum Schluss noch, da wir auf dem Kirchentag sind, ein paar Sätze zur Religion:

Die Religionen, auch das Christ:innentum, haben nie geleugnet, dass Menschen abhängig sind und deshalb füreinander sorgen müssen. Damit unterscheiden sie sich positiv vom dominanten modernen Leitbild des «unabhängigen» Machers, des berühmt-berüchtigten homo oeconomicus.

Die so genannt «großen», die patriarchal konstruierten Religionen haben allerdings menschliches Angewiesensein eigenartig konzipiert: nämlich als Abhängigkeit von einem «Herrn und Vater», «Schöpfer und König», der irgendwo oben sitzt und uns nach Belieben straft, züchtigt oder liebt. Meiner Erfahrung nach liebt es die Mehrheit der Kirchenleute, so zu tun, als gäbe es zu dieser theokratischen oder auch autokratischen Weltsicht keine Alternative.

Es gibt aber eine.
In den religiösen Traditionen gibt es unzählige Anknüpfungspunkte für ein anderes, ein demokratie- und zukunftsfähiges, ein nicht patriarchales Verständnis von gegenseitiger Abhängigkeit in Freiheit.[13]
An diese Traditionen können und sollten wir anknüpfen. Vielleicht würden wir als postpatriarchale Kirche dann sogar ökosystemrelevant.



[1] Die Wirtschaft fußt auf der unbezahlten Arbeit von Frauen. Interview von Lisa Welzhofer mit Uta Meier-Gräwe, in: Stuttgarter Nachrichten online vom 27.02.2023 https://tinyurl.com/3pfnnwwk (25.05.2023)

[2] Frauen arbeiten unbezahlt, Milliardäre machen Kasse. Pressemitteilung von Oxfam Deutschland vom 20.01.2020 https://tinyurl.com/bdfyhrw2 (25.05.2023)

[3] Vgl. dazu z.B. Ina Praetorius, Was Ökonom:innen so sagen, wenn sie gefragt werden, in: Durcheinander Blog vom 24. Oktober 2020 https://tinyurl.com/esheswnx

[4] Vgl. dazu: Anna Saave, Einverleiben und Externalisieren. Zur Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise, Bielefeld (transcript Verlag) 2022; Vgl. auch Nancy Fraser, der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine Grundlagen verschlingt, Frankfurt a.M. (Suhrkamp Verlag) 2023.

[5] Maria Mies, Den kapitalistisch-patriarchalen Eisberg abschmelzen, Subsistenz-Lebenswelten aufbauen. Rosa Luxemburg zeigt uns den Weg http://www.wloe.org/fileadmin/Files-DE/PDF/Frauen/Maria_Mies/Mies_Infobriefe/IB_10_Den_kapitalistischpatriarchalen_Eisberg_abschmelzen_Teil_I.pdf (29.05.2023)

[6] Vgl.: Ina Praetorius, Eine neue Rubrik im Handelsblatt: Das Ganze der Wirtschaft, in: DurcheinanderBlog vom 1. Januar 2022, https://tinyurl.com/2p8za5fm

[7] Vgl. dazu die Kampagne «Karwoche ist Care-Woche» des Vereins Wirtschaft ist Care: https://karwoche-ist-carewoche.org Vgl. auch: Ina Praetorius, Uta Meier-Gräwe, Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, Ostfildern (Patmos Verlag) 2023.

[8] https://care-revolution.org

[9] https://wirtschaft-ist-care.org

[10] https://fairsorgen.at

[11] https://wirtschaft-neu-ausrichten.org

[12] Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline tecklenburg (Hgg), Wirtschaft neu ausrichten. Care-Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen (Barbara Budrich Verlag) 2023.

[13] Vgl. dazu z.B. Ina Praetorius, Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2005; Ina Praetorius Hg., Sich in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit, Königstein (Ulrike Helmer Verlag) 2005; Ina Praetorius, Im postpatriarchalen Durcheinander. Unterwegs mit Xanthippe, Rüsselsheim (Christel Göttert Verlag) 2020.


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