Manuskripte 2025

Kirchentag in Hannover

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag einzusehen.

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; wir veröffentlichen alles, was uns die Referierenden zur Verfügung stellen. Die Dokumentationsrechte für ganze Texte liegen bei den Urheber:innen. Bitte beachten Sie die jeweiligen Sperrfristen.

 

Sperrfrist
Do, 01. Mai 2025, 09.30 Uhr

Do
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Donnerstag | Bibelarbeit
Dialogbibelarbeit | Ernst-Wilhelm Gohl, Winfried Kretschmann
Mut zum Widerspruch | Markus 7,24-30
Winfried Kretschmann MdL, Ministerpräsident, Stuttgart
Ernst-Wilhelm Gohl, Landesbischof, Stuttgart

Landesbischof Gohl:

Gebet: 

Du Gott des Lebens, wir danken Dir für Dein Wort und diese Gemeinschaft an diesem Morgen. Gib uns gute Gedanken und Verständnis füreinander. Nun segne unser Reden und unser Hören. Amen.

 

Ministerpräsident Kretschmann:

Liebe Schwestern und Brüder, beim Lesen dieser Bibelstelle in Vorbereitung auf unsere Bibelarbeit war ich sehr gespalten. Was für eine befremdliche Szene!

Sie ist in höchstem Maße irritierend. Weil die Hauptfiguren so widersprüchlich sind.

Da ist einerseits Jesus, der mit einer ungewohnten Schroffheit und Härte auftritt. Gar nicht der gütige, empathische Jesus, den wir sonst kennen. Er will seine Ruhe. Er weist die hilfesuchende Frau grob zurück und verweigert ihr die Heilung. Ein Macho, der die Mutter eines schwerkranken Mädchens schmäht. Und sich am Ende aber dann doch von ihr überzeugen lässt.

Da ist andererseits die Frau. Für die Art, wie Jesus sie behandelt, müsste sie eigentlich auf dem Absatz kehrtmachen. Aber sie ist in Not und will, dass ihre Tochter gesund wird. Also bleibt sie, hält es aus. Aber zugleich widerspricht sie Jesus und liefert sich mit ihm ein Wortgefecht. Das macht sie sehr geschickt: Sie nimmt das Bild Jesu zwar auf, interpretiert es aber um und gibt ihm eine neue Sinnspitze. Und argumentiert so überzeugend, dass Jesus ihre Tochter heilt.

Kurz gesagt: Jesus als Macho, der sich dann doch der Frau fügt. Und eine unterwürfige Frau, die aber ordentlich Kontra gibt.

Ja, diese Begegnung zwischen Jesus und der Frau gibt Rätsel auf. Vielleicht erwarten Sie da von Landesbischof Gohl und mir im Laufe unserer gemeinsamen Bibelarbeit eine Auflösung. Ein Fazit, eine Art „Amen – So ist es“. Da muss ich Sie enttäuschen. Die Bibelstelle erzählt von einer Begegnung – dem Gespräch zwischen Jesus und der Frau. Auch unsere heutige Bibelarbeit ist eine Begegnung: das Gespräch zwischen Landesbischof Gohl und mir, ein „Dia-log“, also ein gemeinsames Durch-Sprechen, Durch-Denken zweier Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Zugängen.

Und so möchten wir auch Sie zu einer Begegnung einladen: zur Begegnung mit dem Bibeltext und zur Begegnung mit unseren Gedanken und Ideen dazu. Eine solche Begegnung muss notwendig offen bleiben. Ohne Fazit, ohne Amen. Und so wird auch unser Austausch am Schluss offen enden. Aber Ihnen – so hoffen wir – Anregungen mitgeben.

 

Landesbischof Gohl:

Jesus tritt hier wirklich anders auf als wir es sonst von ihm kennen. Bevor wir uns gemeinsam den Text anschauen, will ich noch eine persönliche Wahrnehmung mitteilen. In der Begegnung zwischen Jesus und der unbekannten Frau geht es ja in erster Linie um ein Kind. Ihr Kind. Ihre Tochter. Sie ist noch klein und schwer erkrankt. Unsere Übersetzung sagt über das Kind, dass „ein zerstörerischer Geist“ ihr zu schaffen mache.

Ältere Übersetzungen sprechen wörtlich von Dämonen. Die Rede vom zerstörerischen Geist lenkt das Interesse weg von den Fragen, die in meiner Jugend die Theologen beschäftigten: Gibt es Dämonen? Ist Jesus ein Magier oder gar Exorzist? Beim Lesen dachte ich, dass es viele Krankheiten gibt, gerade psychische, und auch Süchte, die etwas Zerstörerisches haben. Nach den Attentaten unserer Tage mit psychisch kranken Tätern, liegt mir daran, psychisch kranke Menschen nicht unter Generalverdacht zu stellen. Unsere Geschichte erinnert uns daran: Eine Krankheit ist in erster Linie für die Kranken und ihre Familien eine enorme Belastung.

Mich rührt dieses kleine Mädchen an. Mir fallen die Eltern ein, die ich als Pfarrer begleitet habe. Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen. Eltern, die bange Stunden im Krankenhaus oder zuhause am Krankenbett erleben. Ich denke an die Geschwister, wenn das Familienleben ganz im Zeichen der Krankheit des Bruders oder der Schwester steht. Ich denke an die Ärztinnen und Ärzte, die mal mehr und mal weniger Hoffnung machen können.

Eltern tun alles, wenn nur ihr Kind wieder gesund wird. So auch diese Mutter. Nichts hat bisher geholfen. Die letzte Hoffnung ist dieser unbekannte Heiler. Von ihm sagen die Leute: Der hat schon vielen geholfen. Und das ist auch das Tröstliche an der Wundererzählung. Die Tochter wird gesund – und das, während die beiden Erwachsenen noch streiten: „Der Dämon ist bereits aus deiner Tochter hinausgegangen“, heißt es. Ich wünsche den vielen Eltern, die sich um ihre kranken Kinder sorgen, dass sie erfahren, wie Gott bei ihnen ist.

Aber jetzt schauen wir genauer auf den Streit zwischen Jesus und dieser Mutter: Können wir aus diesem Streitgespräch etwas lernen, etwas für unsere Debatten in Staat und Gesellschaft von Jesus und der Frau lernen?

 

Ministerpräsident Kretschmann:

Wichtig ist da für mich der Satz Jesu: διἀ τοῦτον τὀν λόγον ὕπαγε – „Du hast klug argumentiert.“ Oder genauer übersetzt: „Wegen dieses Worts, wegen dieses Arguments geh hin.“

Wir erinnern uns an die Szene: Jesus stellt eine These auf. Die Frau widerspricht sachlich und klug. Und Jesus lässt sich davon überzeugen. Er ändert seine Haltung. Man könnte auch sagen: Aus der Begegnung entspringt ein Dialog, aus dem Dialog eine Erkenntnis, aus der Erkenntnis ein Wandel. Ja, es ist so gesehen das Gespräch selbst, das Veränderung bewirkt, eine bessere Welt schafft. Biblisch gesprochen: heilt. Denn Jesus sagt ja der Frau: Wegen deines Worts kannst du nach Hause gehen. Deine Tochter ist bereits geheilt. Welch eindrückliches Bekenntnis zur Macht des Dialogs und zur Kraft des Arguments!

Daraus können wir für unsere derzeitige gesellschaftliche und politische Debattenkultur viel lernen. Denn mit dem Zuhören, Argumentieren, sich auf Neues Einlassen sieht es eher nicht so gut aus. Das fängt schon bei uns selber an, wenn wir eine vorgefertigte Meinung haben, einander das Wort abschneiden, uns lieber mit Gleichgesinnten umgeben. Aber unsere Debattenkultur wird auch von außen bedroht: durch Populisten, die aufhetzen und spalten; durch Trolle, die Lügen verbreiten und Meinungen manipulieren; durch Radikale, die Andersdenkende niederbrüllen oder mit Gewalt angehen.

Dabei gehören die Debatte, das Ringen um Lösungen, ja auch der Streit zur Demokratie. Aber eben zivilisierter Streit. Ein Streit mit Regeln, Respekt und Recht. Ein Streit, der auf dem Vertrauen basiert, dass alle etwas beitragen können. Ein Streit, der von der Bereitschaft lebt, auch selber dazuzulernen und Kompromisse zu schließen.

Dazu gehört auch, Kritik zu ertragen, nicht zu zimperlich zu sein, und mal was auszuhalten. Die Frau hat sich auch erst einmal hart angehen lassen von Jesus.

Sich immer gleich zu empören und sofort beleidigt sein, kann auch eine Form der Gesprächsverweigerung sein. Darum geht es: Einander zuhören, Unterschiede offen aussprechen, fair miteinander umgehen. Der Historiker Timothy Garton Ash nennt diese Haltung eine „robuste Zivilität“.

Daraus entsteht dann Neues und wächst Zusammenhalt. Zivilisierter Streit hält die Gesellschaft zusammen, unzivilisierter Streit aber spaltet sie. Letzterer basiert auf Rechthaberei, wo einige meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Das führt zu Meinungsdiktatur. Und zerstört unsere Demokratie. Deshalb ist es so wichtig, dass die Parteien der demokratischen Mitte immer im Gespräch miteinander bleiben und um gemeinsame Lösungen ringen. Nicht dauernd skandalisieren, nur auf der eigenen Forderung beharren, von vorneherein Kompromisse ausschließen.

Es kommt also in unserer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft wesentlich darauf an, wie wir mit Meinungsverschiedenheiten und Konflikten umgehen. Denn natürlich sind wir alle verschieden, haben unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Vorstellungen vom Zusammenleben. Weil sich – wie Hannah Arendt in ihrem kleinen Buch über Sokrates formulierte – „die Welt jedem Menschen verschieden eröffnet“. Wo wir uns also als Bürgerinnen und Bürger auf die unterschiedlichen Blickwinkel der anderen einlassen, ihre Argumente abwägen, gemeinsam nach Lösungen suchen, da wächst Zusammenhalt.

 

Landesbischof Gohl:

Dass das Streitgespräch an diesem Ort stattfindet, ist kein Zufall. Denn gleich zu Beginn unseres Textes heißt es: „Jesus ging ins Grenzgebiet von Galiläa und Tyrus“. In Grenzgebieten treffen unterschiedliche Perspektiven aufeinander.

Unterschiedliche Länder oder unterschiedliche Ethnien oder unterschiedliche Religionen. Galiläa im Norden Israels ist die Heimat Jesu. Hier sammelte er seine Jünger um sich. Hier wohnte seine Verwandtschaft. Brach man von dort Richtung Norden auf, gelangte man in das Gebiet um Tyrus, im heutigen Libanon. Die Bewohner der wohlhabenden Hafenstadt Tyrus waren keine Juden.

Das Geschäftsmodell zwischen Tyrus und den jüdischen Nachbarn bestand im Handel von Nahrungsmitteln, besonders Getreide. Tyrus kaufte bei den Nachbarn günstig ein, die Konkurrenz war groß. Die Bauern aus dem ländlichen Umland von Tyrus waren jüdischen Glaubens und hatten oft keine andere Wahl. Um überhaupt an Geld zu kommen, mussten sie zu Niedrigstpreis verkaufen. Dabei hatten sie oft selbst nicht genug zu essen. Im Grund absurd, konnten sie ihren Hunger nicht mit dem eigenen Korn stillen, weil sie dringend den Kauferlös benötigten. Der reiche Nachbar wurde immer reicher und die Not der Bauern immer größer.

Sozialdarwinismus statt sozialer Marktwirtschaft.

Als Jesus in die Gegend von Tyrus kommt, trifft er eine Frau, die für einen Menschen, der aus Galiläa kam, ungute Gefühle weckt. Den Namen der Frau erfahren wir nicht. Der Evangelist Markus schreibt nur, sie sei eine Griechin aus Syrophönizien. Das heißt: Sie ist keine Jüdin. Diese Frau stammt aus der Gegend um Tyrus. Sie ist gebildet und wohlhabend. Die Einheitsübersetzung nennt sie eine Heidin. Als Beweis für ihren Wohlstand wird am Ende der Erzählung eher beiläufig erwähnt, das kranke Kind habe in seinem Bett gelegen. Gemeint ist ein richtiges Bett, kein Strohsack. Diese Betten hatten nur die, die es sich leisten konnten. Davon konnten die armen jüdischen Bauern nur träumen.

 

Ministerpräsident Kretschmann:

Hier geht es also – politisch gesehen – um die gerechte Ordnung, um die soziale Frage. Die hat eigentlich eine vertikale Dimension. Die oben, die viel haben, geben denen unten, die wenig haben, etwas ab. Damit es am Ende für alle auskömmlich ist. Und ein bisschen gerechter zugeht. Das ist Sozialpolitik.

Populisten unterscheiden bei der sozialen Frage aber nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen drinnen und draußen. Also zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören. Sie versprechen, Wohlstandssorgen dadurch zu lösen, dass sie andere ausschließen. Zum Beispiel Migranten. Die angeblich nicht dazugehören.

Auch der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance denkt so. So hatte er kurz nach Amtsantritt die harte Migrations- und Deportationspolitik Trumps damit gerechtfertigt, dass es christlich sei, zuerst die eigene Familie zu lieben und erst dann die Nachbarn, die lokale Gemeinschaft, die Mitbürger und irgendwann danach den Rest der Welt. Als Beleg zog er den Kirchenvater Augustinus heran und dessen Ordo amoris, also Ordnung der Liebe.

Dieser Behauptung von Vance hatte der verstorbene Papst Franziskus klar widersprochen. Nicht nur weil Vance den heiligen Augustinus falsch interpretierte, der mit seinem Ordo amoris gar keine Rangordnung errichten wollte. Sondern auch, weil Vance mit seiner These der konzentrischen Kreise Jesu Gebot der Nächstenliebe ins Gegenteil verkehrte. „Christliche Liebe…“, so schrieb Franziskus, „ist keine konzentrische Ausdehnung von Interessen, die sich nach und nach auf andere Personen und Gruppen erstrecken.“ Es geht ja – wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zeigt – gerade nicht darum, nur denen zu helfen, die einem nahestehen.

Wer so argumentiert, zieht in die Politik einen familialen Gedanken ein, der da aber nicht hingehört. Denn in der Politik geht es, so hat das die Philosophin Hannah Arendt formuliert, um das „Zusammensein der Verschiedenen“. Zur Familie hingegen gehöre ich durch Verwandtschaft. Da geht es um Zugehörigkeit durch Gleichsein.

Der Familiengedanke in der Politik zerstört die Idee der Vielfalt und ist für Hannah Arendt geradezu die „Perversion des Politischen“.

Genau das aber machen die Populisten: Sie wollen nicht das Verschiedensein der Menschen zum Wohle aller organisieren, sondern zugunsten der Eigenen die Anderen ausgrenzen. Und so von den Abstiegsängsten profitieren. Sie kippen unsere Sozialität von der Vertikale in die Horizontale und versprechen die Lösung sozialer Herausforderungen durch Ausgrenzung und Abwertung.

Hier sind wir als Christen aufgefordert dagegenzuhalten. Zu widersprechen. Soziale Gerechtigkeit, Teilhabe, Sicherheit dürfen sich nicht auf einige wenige beschränken. Da darf es in unserer Gesellschaft kein drinnen und draußen geben. Sonst gibt es keinen Zusammenhalt. Das ist das christliche Proprium. Und daran müssen wir auch in der politischen Debatte immer wieder erinnern. Denn das ist das zentrale Versprechen dieser Erzählung: Gottes Liebe gilt allen.

Und deshalb müssen wir Christen sie zu den Menschen bringen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass das Christentum auch der modernen, säkularen Welt etwas zu sagen und zu bieten hat: der Glaube an den personalen Schöpfergott als Quelle für Humanität und Freiheit, die Liebe des menschgewordenen Gottes als Quelle für Toleranz und soziales Miteinander, die Hoffnung der Auferstehung als Quelle für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Teilen wir das mit den Menschen!

 

Landesbischof Gohl:

In der Kirche neigen wir dazu, biblische Texte schnell auf große theologische Fragen zu beziehen. Es wird aber deutlich, dass die Begegnung von Jesus und der wohlhabenden Frau aus Tyrus zuerst eine Begegnung von arm und reich ist. Vor diesem Hintergrund überrascht die Geste der wohlhabenden Frau: Die syrophönizische Frau wirft sich dem unbekannten Mann aus Galiläa zu Füßen. Mehr Demut geht nicht! Sie ist verzweifelt. Ihr Kind ist krank. Ihre letzte Hoffnung ist Jesus.

Doch ich will noch einen Augenblick bei der Spannung von arm und reich bleiben. Die beiden begegnen sich im Kontext einer ungerechten Wirtschaftsordnung.

Wohlstand und Armut sind zementiert. Diese soziale Dimension ist nicht hoch genug zu gewichten. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem Kontext. Unsere Erzählung wird von zwei Speisungswundern gerahmt. Die Speisung der 5000 am westlichen Ufer des See Genezareth geht ihr voraus (Markus 6,30 ff.), und die Speisung der 4000 an der nichtjüdischen Ostseite des Sees folgt wenig später (Markus 8,1 ff.).

Erfahrungen von Armut und Hunger sind menschliche Schlüsselerfahrungen. Und im Grenzgebiet von Tyrus geht es immer auch darum, wer hungern muss und wer nicht. Darum ist es auch nicht überraschend, dass Jesu erste Antwort diese Hungererfahrung direkt anspricht. Auf die Bitte der Frau, ihr Kind zu heilen, antwortet er kühl: „Lass zuerst die Kinder satt werden. Es ist nicht gut, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen.“

Offensichtlich sind hier andere Kinder gemeint als das kranke Kind, in dem ein zerstörerischer Geist tobt. Jesus und die Frau sind einander fremd. Man kann diese erste Bemerkung Jesu so verstehen, dass mit den Kindern die Kinder Israels gemeint sind. Das hieße, Jesus sagt: Bevor ich dein Kind von einem zerstörerischen Geist befreie, sorge du dafür, dass die von Armut und Hunger geplagten jüdischen Bewohner aus der Gegend um Tyrus satt werden.

 

Ministerpräsident Kretschmann:

Lassen Sie uns einen Moment noch bei diesem Bildwort von den Kindern und den Hunden bleiben. Man muss wissen: Auch wenn diese Hunde κυναρίοις, also Hündchen, genannt werden, sind es keine Schoßhunde, sondern richtige Haushunde. Sie leben im Haushalt mit, im Unterschied zu Straßenkötern. Und da gilt im antiken Haushalt eine klare Rangordnung. Das beste Essen kriegen die Familienmitglieder, dann bekommen die Bediensteten etwas. Als Letztes im Haushalt sind die Hunde dran, die die Abfälle und Essenreste kriegen, die man unter den Tisch wirft. Oder eben das, was versehentlich hinunterfällt. Diese Aussage wird noch durch das Bild der leiblichen „Kinder“, im Griechischen τέκνα, verstärkt. Vom guten, aber knappen Essen bekommen natürlich nur die eigenen Kinder. Denen nimmt man nicht das Essen weg und gibt es den Hunden.

Jesus geht davon aus, dass es nicht genug Brot für alle gibt. Dass man es deshalb nur den Kindern gibt, nicht aber den Hunden. Meint Jesus damit wirklich, dass Gottes Heilshandeln nicht für alle reicht?

Die Frau greift zwar dieses Bild Jesu auf, unterläuft aber geschickt seine Stoßrichtung. Sie leugnet nicht den Vorrang der Kinder. Aber sie argumentiert, dass das Brot eben sehr wohl für alle reicht. Denn auch die Hunde kriegen von den Krumen ab, die versehentlich unter den Tisch fallen, und werden so satt. Nicht nur die Kinder, die am Tisch sitzen. Dabei nimmt sie auffälligerweise ein anderes griechisches Wort für „Kinder“, nämlich παιδίων. Das meint Kinder nicht in einem verwandtschaftlichen, sondern in einem gesellschaftlichen Sinn. Sie öffnet also die begriffliche und bildliche Engführung Jesu und dreht das Entweder-oder in seinem Bild in ein Sowohl-als-auch. Ihre Haltung verändert Jesus, öffnet ihn. Und sie überzeugt ihn: Jesus wirkt an ihrer Tochter Heil und bezeugt so, dass die Botschaft von Gottes Liebe allen Menschen zugesprochen ist.

Das zeigt sich vielleicht auch im Schlusssatz: Denn da heißt es: Das geheilte Mädchen lag auf einer κλίνην. Das kann im Griechischen ein Bett meinen, wie es in der Kirchentagsübersetzung heißt. Es kann aber auch die Speiseliege sein, auf der man während des Essens lag. Das würde bedeuten: Am Ende wird das geheilte Mädchen Teil der Tischgemeinschaft, wie die anderen Kinder. Sie gehört dazu.

 

Landesbischof Gohl:

Sie haben darauf hingewiesen, dass die wörtliche Übersetzung nicht wie bei Luther „Hündlein“ ist, sondern Haushunde meint. Wenn im Zusammenhang mit den Haushunden von den Kindern (tekna) die Rede ist, so sind in den Evangelien sehr oft die Kinder Israels gemeint. Das Halten von Hunden im Haus ist im Judentum nicht verboten, aber eher negativ gesehen. Interpretiert man die Hunde als unreine Tiere, was bis heute viele Exegeten tun, so wird hier ein Gegensatz zwischen Israel und seiner heidnischen Umwelt deutlich. Diese Deutung hat bereits in der Zeit der Alten Kirche zu einer merkwürdigen Verdrehung geführt. Man konstruierte eine Überordnung der Kirche gegenüber dem Judentum als „logischen Reflex“ auf diese behauptete Überordnung der Kinder Israels.

Neuere Auslegungen kommen zu einem anderen Ergebnis: Dazu ist nochmals ein Blick auf den Dialog zwischen Jesus und der Frau aus Tyrus wichtig. In Vers 27 sagt Jesus: Zuerst sollen die Kinder satt werden. Im Griechischen steht hier das Wort proton. Wir kennen es von dem Wort Prototyp. In älteren Übersetzungen heißt es „ausschließlich“. Genauer muss es aber „zuerst“ heißen. Wie beim Prototyp. In Römer 1,16 gibt es eine ganz ähnliche Formulierung. Dort heißt es über Gottes Heil, es gelte zuerst (proton) Israel und dann den Heiden. Jesus spricht hier also eine Abfolge aus: zuerst die Kinder Israels – und dann die Heiden.

Um im Bild zu bleiben: Die Haushunde liegen bei den Mahlzeiten unter dem Tisch. Sie bekommen ihr Fressen erst, wenn die Kinder gegessen haben. Der Evangelist Markus macht dadurch deutlich: Die Erwählungsgewissheit Israels bleibt bestehen und gilt, aber zu Gottes Heil haben nun auch die Heiden Zugang. Für die Frau manifestiert sich dieses universale Heil in der Austreibung des Dämons und dem Gesundwerden ihrer Tochter.

Wenn ich diese Texterkenntnis im Lichte des aktuellen Kriegs im Nahen Osten sehe, dann kann dieser Dialog zwischen Jesus und der heidnischen Frau ebenfalls israelkritisch gelesen werden: Man könnte sagen, die nichtjüdische Frau bekomme das, was sie dringend brauche, nämlich die Heilung ihrer Tochter, zum Preis einer Selbstverleugnung. Sie sagt zu Jesus: „Herr, auch die Hunde unter dem Tisch fressen von den Brotkrümeln der kleinen Kinder.“

Wer diesen Text israelsensibel liest, dem wird deutlich: Jesus spricht von den Kindern, die zuerst satt werden sollen. Dabei hat er die Kinder Israels vor Augen. Die Frau aus Tyrus spricht ebenfalls von Kindern, sie verwendet den Ausdruck paidos (Kind). Wir kennen das Wort aus der Fachrichtung der Pädagogik. Sie wiederholt Jesu Feststellung (die Kinder bekommen zu essen und das Brot, was unter dem Tisch landet, ist für die Hunde), aber sie variiert es. Das wird im letzten Vers deutlich: Die Mutter kommt nach Hause und findet ihre Tochter geheilt auf ihrem Bett liegend vor. Zu Beginn war das Mädchen als Tochter bezeichnet worden – jetzt, Sie ahnen es sicher schon – spricht der Evangelist Markus nicht mehr von Tochter, sondern von pais – Kind. Das Heil Gottes ist also universal geworden. Mit der Heilung des heidnischen Kindes ist das Eschaton des Heils angebrochen.


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