Dialogbibelarbeit | Aliyah El Mansy, Christl M. Maier
Prof. Dr. Christl M. Maier, Alttestamentlerin, Marburg
Dr. Aliyah El Mansy, Pfarrerin und Neutestamentlerin, Großen-Buseck
Aliyah El Mansy: Begegnungen: Zusammentreffen. Zuschreibungen. Auseinandersetzen. Widersprechen. Um all das geht es in der Bibelgeschichte heute Morgen.
Christl M. Maier: Zwei Personen begegnen sich. Im Grenzgebiet. Im Dazwischen. Mit ihren Lebensgeschichten. Mit dem, was sie ausmacht. Wer sie sind. In all ihren Facetten. Wer trifft hier aufeinander?
Ein Mann, ein Jude, ein Galiläer, ein Wanderprediger.
Eine Frau, eine Griechin, eine Syrophönizierin, eine Mutter.
Worte, Beschreibungen rufen bestimmte Bilder und Assoziationen in uns hervor. Schreiben zu. Stecken in Schubladen. Mut zum Widerspruch. Wie geht das?
Textimpulse
Aliyah El Mansy: Eine Frau begegnet Jesus. Bewusst sucht sie ihn auf. Er will eigentlich niemanden treffen. Hat sich bewusst zurückgezogen. Ins Grenzgebiet. Er kommt aus einem Dorf in Galiläa. Geht in die Nähe von Tyros, die boomende Handelsstadt. Will unerkannt bleiben. Aber das klappt nicht. Sein Ruf als Heiler, als Helfer der Menschen am Rand der Gesellschaft, eilt ihm voraus.
Eine Griechin, eine Syrophönizierin, begegnet einem Juden, einem Galiläer. Im Grenzgebiet. Die britische Künstlerin und Pastorin Ally Barrett stellt diese Begegnung dar:
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© Ally Barrett (www.reverendally.org) and used by permission.
Was sehen Sie? Wie wird diese Begegnung dargestellt? Die Begegnung zwischen dem Mann und der Frau.
Ich sehe eine Schwelle. Einen Eingang. Der Mann ist größer als die Frau. Er scheint mitten in der Bewegung. Wendet sich ab. Doch die Frau macht einen Schritt hinterher. Packt ihn bestimmt am Arm. Hält ihn auf. Widerspricht seiner Abkehr. Ihre andere Hand hält sie eng am Körper. Die Faust geballt oder in die Hüfte gestützt. Die Kleidung der Beiden ähnelt sich. Beide sind barfuß. Gemeinsamkeiten trotz aller Unterschiede. Der Hund in der Ecke ist schon über die Schwelle getreten. Schon fast im Haus.
Christl M. Maier: Das erinnert mich an eine andere Frau. Auch eine Mutter. Eine Witwe. In Phönizien. In Zarpat. Genau zwischen Tyros und Sidon gelegen. Der Prophet Elia begegnet ihr am Stadttor. Einem anderen Eingang. Eine Schwelle. Elia fordert die Frau auf, ihm Wasser zu geben. Das macht sie. Dann fordert er Brot. Da widerspricht sie. Sie hat nur noch wenig Mehl. Für sich und ihr Kind. Elia beharrt auf seinem Wunsch. Verspricht ihr, alles werde gut. Sie teilen gemeinsam. Wasser und Brot. Die Frau, der Mann und das Kind. Und obwohl es eigentlich nicht genug Mehl gab, reicht das Brot Tag um Tag. Doch das Kind, der Sohn der Witwe, wird krank. Stirbt. Schmerz. Verzweiflung. Schuldzuweisungen. Die Frau gibt Elia die Schuld. Weil es eben nicht gut ist. Ihr Sohn ist tot. Das Liebste, was sie hat. Wer ist dieser Mann, der in ihr Haus kam? Elia bittet Gott darum, das Kind wieder lebendig zu machen. Und der Junge lebt. Elia hat sich als wahrer Prophet Gottes erwiesen.
Aliyah El Mansy: Eine Griechin, eine Syrophönizierin, begegnet einem Juden, einem Galiläer. Im Grenzgebiet. Verschiedene Religionen, verschiedene Nationalitäten.
Ein anderes Bild der Künstlerin über diese Begegnung. Was sehen Sie? Wie wird diese Begegnung hier dargestellt?
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© Ally Barrett (www.reverendally.org) and used by permission.
Ich sehe Unterschiede. Körpergröße. Hautfarbe. Kleidung. Jesus zeigt seine Handflächen. Als wäre er handlungsunfähig. Hilflos. Zwischen ihnen ein Hund. Wie ein Hindernis. Oder ein Stolperstein. Die Frau ist kleiner. Jesus macht sie klein. Durch den Vergleich mit einem Hund. Eine Beleidigung. Sie redet. Streckt die Hand aus. An der anderen Hand die kleine Tochter.
Verletzlich. Das Kleid der Frau rot wie Feuer. Kraftvoll. Wie ihre Widerstandskraft. Sie lässt sich nicht aufhalten von all den Zuschreibungen und konstruierten Unterschieden. Von Herkunft und Glaube. Von sozialen Unterschieden. Sie fordert Zuwendung und Heilung ein. Sie akzeptiert nicht, als Andere ausgeschlossen zu werden.
Christl M. Maier: Das erinnert mich an zwei Frauen. Die eine aus Betlehem und die andere aus Moab. Die eine Jüdin, die andere nicht-Jüdin. Noomi und Rut. Zwei Frauen aus zwei verfeindeten Völkern. Vorurteile. Zuschreibungen. Verschiedene Sprachen. Verschiedene Religionen. Zwei Witwen. Verarmt, aber mit Widerstandskraft. Die trotz aller Unterschiede zusammenhalten.
„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott“, sagt Rut zu Noomi. Sie lassen sich nicht aufhalten von den Zuschreibungen und konstruierten Unterschieden. Nicht von den Beleidigungen anderer. Nicht von den gesellschaftlichen Erwartungen, wie sie sich zu verhalten haben. Sie gehen gemeinsam nach Bethlehem. Noomi will ihr Grundstück zurückhaben. Rut arbeitet auf dem Feld. Sorgt für sich und Noomi. Sie begegnet Boaz. Der kauft das Feld und heiratet Ruth. Die beiden Frauen haben jetzt ein Auskommen. Und Nachwuchs. Ruts Sohn Oded ist Noomis Enkel und wird zum Großvater von König David.
Aliyah El Mansy: Eine Mutter begegnet dem, auf den sie Hoffnung setzt. Damit ihr Kind eine Zukunft hat. Wie wird diese Begegnung auf dem letzten Bild dargestellt? Was sehen Sie?
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© Ally Barrett (www.reverendally.org) and used by permission.
Ich sehe eine Straße. Eine Kreuzung. Mitten darauf die Mutter und der Messias. Die kranke Tochter sitzt auf der Straße. Ohne Schuhe. Hält den Hund im Arm. Klammert sich an ihn. Wie aus der Hand gefallen liegt eine Einkaufstüte am Boden. Wein und Brot? Die Mutter scheint zu gestikulieren. Hat einen Arm in die Hüfte gestemmt. Jesus sitzt. Sie sind auf Augenhöhe. Er scheint zuzuhören. Seine Kleidung weiß wie das Straßenschild. Ihr Kleid und das ihrer Tochter blau. Die Farbe Blau kann für Vieles stehen. Sehnsucht. Klugheit. Der Himmel. Das Überirdische. Die Frau und Mutter widerspricht. Argumentiert. Brot reicht für alle. Es zerkrümelt. Und dann ist genug für alle da.
Christl M. Maier: Mir fallen da die Geschichten der Brotvermehrung ein. Elia lässt das Mehl im Topf der Witwe nicht ausgehen. Sein Nachfolger, der Prophet Elischa, speist mit 20 Gerstenbroten einhundert Männer (2 Könige 4,42-44). Es bleibt sogar noch etwas übrig. Der Evangelist Markus erzählt die Speisung der Fünftausend (Markus 6,34-45). Jesus lehrt und viele Menschen versammeln sich um ihn. Es wird Abend. Jesu Jünger sagen: „Die Leute müssen essen.“ Jesus sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Sie sagen: „Wir haben nur fünf Brote und zwei Fische.“ Jesus lässt die Menschen lagern. Er betet. Bricht das Brot. Teilt es aus. Es reicht für alle. Es zerkrümelt. Und es bleibt übrig. So wie die Frau in unserer Geschichte sagt: „Auch die Hunde unter dem Tisch fressen von den Brotkrümeln der kleinen Kinder.“
Aliyah El Mansy: Ja, in Galiläa. Da sind alle satt geworden. Aber hier im Grenzgebiet. Da ist nicht genug Brot. Sagt Jesus. Aber die fremde Frau widerspricht. Sie wehrt sich gegen die Zurücksetzung. Sie zeigt ihm: Auch Fremde haben Anteil an Gottes Zuwendung. Und Jesus stimmt ihr zu.
Und heilt ihre Tochter. Nicht ihr Glaube. Ihr Mut zum Widerspruch eröffnet den Weg. Jesu Umdenken. Heilung der Tochter.
Impulse für die Gegenwart
Aliyah El Mansy: Die Bilder von Ally Barrett haben mich fasziniert. Weil sie den Text für andere Perspektiven öffnen. Und das Letzte holt uns in die Gegenwart. Woran bleibst du hängen?
Christl M. Maier: Auf jedem der Bilder streckt die syrophönizische Frau die Hand nach Jesus aus. Als wollte sie sich festhalten. Oder Jesus wachrütteln. Oder übertragen könnte man auch sagen: an seinen eigenen Standards festhalten. Das kann ich nachvollziehen. Dieses Bedürfnis nach etwas, das Halt gibt. Eine andere Person wachzurütteln. Zu verlangen, dass keine doppelten Standards gelten. Die Welt um mich herum ändert sich rasant. Was gestern unerschütterlich schien, wird heute in Zweifel gezogen. Da frage ich mich öfter: Wo stehe ich? Woran halte ich fest? Wichtig ist mir: Mich nicht von der Angst beherrschen lassen oder vom Schwarzsehen. Vom Gedanken des Weltuntergangs. Da versuche ich mutig gegen menschenverachtende Politik einzustehen. Gegen Kleinmut und Resignation. Mut zur Zuversicht zu haben. Ja auch den Mut, meinen christlichen Glauben zu bekennen und mir an Jesus ein Beispiel zu nehmen, wie ich anderen begegnen kann. Vor allen Menschen, die mir fremd sind, anders, die meine Position herausfordern. Zum Umdenken, zur Begegnung auf Augenhöhe, zum Handeln für eine lebenswerte Zukunft braucht es Mut.
Aliyah El Mansy: Eine lebenswerte Zukunft. Da muss ich sofort an die Tochter denken. Ich finde es interessant, dass die Künstlerin sich entschieden hat, sie in die Szenen hinein zu malen. Im Text wartet sie zu Hause. Hier auf den Bildern ist sie dabei. Aber man sieht ihr Gesicht nicht. Im Text heißt es, dass sie an einem „zerstörerischen“ Geist leidet. Damals verstanden die Menschen das als einen Dämon, der in Menschen fährt. Heute würden wir vielleicht sagen: Depression. Oder Zwangsstörung. Oder Verhaltensauffälligkeit.
Und ich denke an Kinder heute. Wie Corona ihr Leben beeinflusst hat und immer noch tut. Die geschlossenen Spielplätze. Die geschlossenen Kindergärten und Schulen. Die Nachwirkungen aus dieser Zeit. Und ich denke an Kinder, die nicht genug haben. Jedes 5. Kind bei uns in Deutschland lebt in Armut. Neulich habe ich ein Interview mit Aladin El-Mafaalani gehört. Zu seinem Buch "Kinder – Minderheit ohne Schutz". Da geht es auch darum, dass Kinder und ihre Bedürfnisse übersehen werden. Systematisch. Obwohl wir wohl alle zustimmen würden, dass Kinder unsere Zukunft sind. Das ist doch ein Widerspruch.
Vielleicht ziehen wir uns hinter diese Floskeln zurück. Um nicht aktiv zu werden. Damit alles so bleibt, wie es ist. Sich nichts verändert.
Christl M. Maier: Floskeln – denen hat die Syrophönizierin in der Geschichte ja widersprochen. Die Floskel, die Jesus benutzt. Und das siehst du auch auf den Bildern. Jesus ist immer größer. Schaut die Frau oft gar nicht richtig an. Erst im Letzten sind die auf Augenhöhe, schauen sich direkt ins Gesicht. Mut zum Widerspruch entsteht aus der Begegnung. Begegnung auf Augenhöhe. Was macht mich aus? Wer ist mein Gegenüber? Begegnung gelingt, wenn beide Menschen Raum haben für ihre Gedanken und Gefühle. Nicht mit Floskeln zugeredet werden. Nicht abgewertet. Von vornherein für dumm oder naiv erklärt. Widerspruch führt zum Umdenken, wenn die Meinung der Anderen gehört wird. Wenn der Andere auch seine Gefühle ausdrücken darf. Wenn die Zuschreibung in den Hintergrund tritt. Das Gemeinsame zum Tragen kommt. Nicht aneinander vorbeireden. Miteinander sprechen. Rede und Widerrede. Argumentieren, nicht Lamentieren.
Aliyah El Mansy: Nicht abgewertet werden. Auf Augenhöhe betrachtet werden. Dafür hat die Frau mit ihrem Widerspruch gekämpft, finde ich. Ihre Antwort hat Jesus dazu gebracht, hinzuschauen. Hinzuhören. Und ich bewundere das. Denn mir fällt das schwer. Im Alltag sind Begegnungen schnell. Da fallen mir nicht immer gewitzte Antworten ein. Oder dass ich Widerspruch so ausdrücken kann, dass er andere zum Umdenken bewegt.
Ich erlebe das immer wieder in der Gemeinde. Mein arabischer Name eckt an. Dann sagen Leute, dass sie sich den nicht merken. Dass das zu schwer sei. Zu kompliziert. Dass der Name nicht deutsch klingt. Und wirklich ganz komisch sei. Rassistische Mikroaggression sagt man dazu. Und am Anfang war ich einfach nur überrumpelt. Geschockt. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Weil dann dieser Film im Kopf los geht: Du musst freundlich bleiben. Die andere Person meint das nicht so. Du kannst jetzt nicht unhöflich sein. Also diese ganzen Zwänge.
Deswegen fasziniert mich die Syrophönizierin. Sie ist nicht in diese Schockstarre geraten und sie hat der Abwertung und Zuschreibung widersprochen. Die andere Person an Menschlichkeit erinnert. Denn das ist Widerspruch orientiert an der Botschaft vom Reich Gottes: Fürsprache für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Und ich habe in den letzten Jahren in der Gemeindearbeit gemerkt: So einen Widerspruch kann man lernen und trainieren.
Vielleicht klappt das nicht auf Anhieb, aber jedes Mal wird es einfacher. Und da helfen mir Vorbilder – das kann die Syrophönizierin sein oder jemand aus der Gegenwart. Woher nimmst du Mut zum Widerspruch?
Christl M. Maier: Ich nehme ihn z. B. aus der Überzeugung, dass alle Menschen gleichwertige Geschöpfe Gottes sind. Ein aktuelles Beispiel aus meinem universitären Kontext: Ich brauche Mut, denen zu widersprechen, die gendergerechte Sprache und die Forschungsfreiheit diskreditieren und am liebsten abschaffen wollen. Es ist ja derzeit in allen Medien, dass die neue US-amerikanische Regierung die Universitäten zwingen will, Forschungen zum Klimawandel, zu Migration oder zur Friedens- und Konfliktforschung einzustellen. Außerdem sollen die Universitäten ihre Programme zur Unterstützung von Studierenden aus Minderheiten beenden, und Studierende, die sich politisch äußern, vom Studium ausschließen. Das ist nicht nur ein Eingriff in die Freiheit der Forschung und die Autonomie der Hochschulen.
Das ist auch ein Affront gegen demokratische Werte und gegen die Menschenwürde. Und das von weißen Männern, die angeblich so christlich sind. Leider sind wir in Deutschland davor nicht gefeit, denn unlängst wollten viele Landesregierungen den Universitäten verbieten, gendergerechte Sprache und die entsprechende Schreibung zu verwenden. Viele Wissenschaftler:innen, mich eingeschlossen, haben dem widersprochen. Die Genderzentren in Hessen haben einen offenen Brief geschrieben, den viele unterzeichnet haben. Das Marburger Zentrum für Gender Studies und Feministische Zukunftsforschung, bei dem ich Mitglied bin, hat das Statement der Fachgesellschaft Geschlechterstudien zu den Angriffen auf die Freiheit von Forschung und Lehre auf die Homepage gestellt. Das war hierzulande nur kurze Zeit in den Medien. Es erinnert mich an die Debatte vor über 20 Jahren in unseren Kirchen: Da stritten wir darüber, ob man zu Gott als Vater und Mutter beten und Frauen explizit in der Liturgie und in Gebeten nennen dürfe. Glücklicherweise haben wir das damals durchgesetzt, auch wenn es in manchen Gemeinden immer noch auf Widerwillen stößt.
Sprache beeinflusst nun einmal das Denken. An meinem Fachbereich gibt es einige Studierende, die nicht mit „Frau“ oder „Herr“ angesprochen werden wollen, die sich als nicht-binär verstehen. Sie wenden sich gegen geschlechtlich vereindeutigende Zuschreibungen und das akzeptiere ich, denn ich möchte niemanden in eine Schublade stecken. Unsere Diskussion im Seminar soll ja auf Augenhöhe geführt werden. Das tut sie nicht, wenn ich z.B. einen fremdklingenden Namen permanent falsch ausspreche oder eine Person anders adressiere als sie es selbst möchte. Das hat meiner Meinung nach nichts mit Ideologie zu tun, sondern ist ein Gebot der Nächstenliebe und der gegenseitigen Akzeptanz.
Leider haben sich reaktionäre Bildungsministerien in einigen Bundesländern schon durchgesetzt, so dass in den Schulen eine gendergerechte Schreibung in Aufsätzen als Fehler angestrichen wird und offizielle Schreiben keine Gendersternchen oder Doppelpunkte enthalten dürfen. Bei uns an der Universität ist es noch nicht so – und in Marburg steht die Universitätsleitung hinter uns. Aber es braucht Mut, solchen nach rückwärts gerichteten Bestrebungen entgegenzutreten.
Aliyah El Mansy: Und ich kenne einige Lehrerinnen und Lehrer, die das tun. Die Wege suchen und finden, dem entgegenzutreten. Und auch Schüler und Schülerinnen. Die riskieren tatsächlich was. Daran muss ich auch denken, wenn es um Widerspruch geht. Dass Widerspruch riskant sein kann. Ein Moment, der gefährdet. Das eigene Wohlbefinden. Das Standing. Vielleicht sogar den Job.
Deswegen finde ich es so wichtig, dass wir uns nicht alleine lassen. Dass wir uns gegenseitig unterstützen. Das kann auf der Arbeit sein, im Freundeskreis, in der Bibelgruppe, in der Familie.
Wenn Sprüche oder Witze gemacht werden auf Kosten anderer. Sexistisch, homophob, behindertenfeindlich – die Liste kann man weiterführen. Ich denke, die meisten von uns kennen solche Situationen. Die Syrophönizierin hat den Mut gehabt, für sich selbst und ihre Tochter einzutreten.
Ich schaffe das selbst nicht immer, wenn es z.B. um Rassismus oder Sexismus geht. Oder Freund:innen von mir, wenn sie von queerfeindlichen Aussagen verletzt werden oder durch Fat Shaming. Weil das müde macht. Erschöpft. Kraft kostet. Frustriert. Verletzt. Traurig macht. Mich erleichtert das, wenn dann auch mal jemand anderes was sagt. Ich das Gefühl bekomme: Ich bin nicht allein. Jemand steht mir bei. Nimmt nicht einfach hin, wenn andere abgewertet werden. Das ist etwas, was wir füreinander tun können. Hinhören. Hinschauen. Den Mund aufmachen. Was ich eben schon gesagt habe, gilt auch hier: Das muss man üben.
Mir hat es mal in einer Gruppesituation total gut getan, dass eine Freundin mich in der Pause gefragt hat: Wie kann ich dich unterstützen? Da ging es darum, dass ich durch Beispiele belegen sollte, dass ich tatsächlich Rassismus erlebe. Ich fand diese Frage richtig gut. Meine Freundin war unsicher und überfordert von der Situation – wie ich auch. Sie wollte nicht übergriffig sein. Also hat sie mich gefragt. Und dann konnte ich ihr sagen: Bitte sag auch was. Ich fühl mich gerade total allein. Das ist das, Christl, was du eben gesagt hast: Miteinander reden und zuhören. Einander auf Augenhöhe begegnen. Zugewandt. Ohne diese Wut, die alles verhärtet.
Christl M. Maier: Bei uns in Deutschland gibt es derzeit ja viel Wut auf Politikerinnen und Politiker. Sie werden beschimpft, manche sogar tätlich angegriffen, gerade auch diejenigen, die sich auf kommunaler Ebene einsetzen. Den einen sind sie zu progressiv, den anderen nicht progressiv genug. Meinungsverschiedenheiten werden nicht diskutiert. Ein richtiges Gespräch kommt oft gar nicht zustande, weil jede Seite auf ihrer Position beharrt. Eigene Befindlichkeiten führen zur Abwertung der anderen Person. Auch hier reden manche vom Mut zum Widerspruch. Das meine ich aber nicht, wenn ich davon spreche. Denn mir geht es um das, was man biblisch „Nächstenliebe“ nennt. Was Jesus vorgelebt hat und woran er sich von einer fremden Frau erinnern lässt: an seinen messianischen Auftrag, die Menschen von Not und Hoffnungslosigkeit zu erlösen. Diese Geschichte erinnert mich an das, was zählt.
Was ich als Christin eigentlich weiß. An Gottes Liebe für alle Menschen. An Gottes gute Schöpfung. Mein Mut zum Widerspruch kommt aus meinem Glauben. Aus biblischen Geschichten, die Grenzen überschreiten. Die zeigen, dass Ausgrenzung überwunden werden kann. So widerspreche ich der Ausgrenzung von Geflüchteten. Ich widerspreche der Abwertung von Menschen mit sog. Migrationshintergrund. Ich begegne jeder Person so, wie ich möchte, dass man mir begegnet. Mit offenen Ohren und beweglichem Geist. Zumindest versuche ich das. Und wo es nicht gelingt, hoffe ich, dass mein Gegenüber widerspricht.
Mich wachrüttelt mit einer Frage. Einem Argument.
Aliyah El Mansy: Wir haben einige Situationen genannt, die Mut zum Widerspruch brauchen. Ihnen fallen bestimmt auch einige ein. Tauschen Sie sich für einige Minuten mit jemandem aus, der oder die in ihrer Nähe sitzt.
Wo haben Sie schon mal Mut zum Widerspruch gebraucht? Oder wo hätten Sie gerne Mut zum Widerspruch?
Abschluss
Aliyah El Mansy: Mut zum Widerspruch – das braucht die Welt. An verschiedenen Orten und Situationen. Ihnen sind sicherlich einige Beispiele und Situationen eingefallen. Und ich hoffe, dass wir uns gegenseitig ermutigen: Zu widersprechen. Es immer wieder zu versuchen. Und so für die Botschaft vom Reich Gottes eintreten.
Christl M. Maier: Mut zum Widerspruch. Im Grenzgebiet überwindet eine Frau, eine Griechin und Syrophönizierin, eine Mutter gesellschaftlich konstruierte Grenzen. Stößt ein Umdenken bei Jesus an, dem jüdischen Mann aus Galiläa. Erinnert ihn daran, dass das Brot für alle reicht. Und Jesus lässt sich von einer Frau umstimmen. An seinen messianischen Auftrag erinnern: Ich bin für alle Menschen da.
Mut zum Widerspruch. Mut zum Umdenken. Nicht nur einmal. Immer wieder. Mut, Gottes Liebe zu allen Menschen in die Welt zu tragen.
Segen
Gott segne dich mit dem Mut
- zur Begegnung
- zum Widerspruch
- zum Umdenken
- und Gottes Liebe weiterzutragen.
Amen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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