Das heilige Innehalten

Friedenstag

Predigt von Kirchentagspräsident Thomas de Maizière beim Chemnitzer Friedenstag.

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Gemeinde am Chemnitzer Friedenstag,

heute vor 78 Jahren fielen Bomben auf Chemnitz. Das war die furchtbare Folge des Angriffskrieges, den Hitlerdeutschland gegen fast die ganze Welt führte. Der Krieg endete – auch in Chemnitz – , weil andere Staaten den überfallenen Staaten zu Hilfe kamen und auch für die Freiheit der Deutschen zur Waffe griffen.

Vor 75 Jahren, 1948, erklärten 150 Kirchen während der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“. Suche Frieden und jage ihm nach, heißt es in Psalm 34, 15.
Seit dem 24. Februar 2022 fallen Bomben auf die Ukraine in der Folge des An-griffskrieges, den Putin gegen die Ukraine führt.
Im September 2022 verspricht Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche russischen Soldaten die Vergebung all ihrer Sünden, wenn sie im Krieg ihr Leben opfern.

Seit dem 24. Februar 2022 diskutieren wir in Deutschland über die Zeitenwende, über Waffenlieferung – ja oder nein. Aus 5.000 Helmen werden nach langen Ab-wägungen Leopard II-Panzer.

Bedingungslosen Waffenstillstand und sofortige Friedensverhandlungen fordern die einen. Unterwerfung ist kein Frieden und Freiheit muss verteidigt werden kön-nen, auch wenn es Opfer kostet, sagen die anderen.
Im Februar 2023 verurteilen 141 Staaten in einer UN-Resolution den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, 32 enthalten sich, 7 sind dagegen. Die Völkergemeinschaft ist sich mehrheitlich einig. Und Putin träumt seinen mörderischen Traum vom rus-sischen Großreich weiter.
Was für Zeiten, in denen wir leben!

Der Friedensgottesdient heute in Chemnitz ist anders als viele zuvor.
„So viel an euch liegt, versucht mit allen Menschen Frieden zu halten“, heißt es im Römerbrief 12,18. Aber was, wenn das nicht geht, weil einer die Grenzen des Frie-dens und des Völkerrechts selbstherrlich überschreitet? Was dann? Frieden um jeden Preis?
Das Bild ist vielschichtig, ambivalent. Einfache Antworten gibt es nicht. Auch von mir werden Sie heute Abend keine einfachen Antworten erwarten dürfen. Ich möchte Überlegungen mit Ihnen teilen. Ich werde meine Haltung mit Ihnen teilen und eine Einladung aussprechen.

I
Vor einem Jahr machte sich über Nacht die Erkenntnis breit: In Europa ist es wie-der möglich, dass ein Land ein anderes überfällt. Wir hatten alle bis zum 23. Feb-ruar darauf gehofft, dass das nicht mehr vorkommt, dass alle Kriegsvorbereitun-gen nicht in einen Krieg münden.
Viele glauben, es schon immer gewusst zu haben. Scheinbar war alles falsch, was vorher für alle richtig schien.
Wahr ist: Krieg war die gesamte Zeit über eine harte Realität in unserer Welt, auch in Europa in den 90`er Jahren, vor allem für die Soldatinnen und Soldaten, die auch Deutschland in Auslandseinsätze geschickt hat. Als Bundesminister der Verteidigung habe ich mehrfach mit Müttern und Frauen vor Särgen gefallener deutscher Soldaten gestanden.
Es war nur eine vermeintliche Gewissheit, dass Krieg überwunden sei und jeden-falls wir in Deutschland damit nicht mehr konfrontiert sind.
Wahr ist leider: Krieg ist eine menschliche Realität.
Diese Realität kommt uns in der Bibel fast in jedem Buch des Alten Testaments und auch im Neuen Testament entgegen. Die Grundtexte der Menschheit spre-chen immer wieder von Streit, Krieg, Mord und Totschlag. Und sie tun es in manchmal verstörender Weise, wenn der Gott, den wir von Weihnachten her Friedefürst nennen, auch als Kriegsherr in den Erzählungen auftritt – manchmal für sein Volk, manchmal gegen sein Volk.
Ich möchte das so verstehen, dass es mehr über die Menschen aussagt, die so versuchten, ihre eigenen Realität zu deuten, als über Gott.
Denn das biblische Zeugnis erzählt keine den Krieg verherrlichende Geschichte, sondern eine große Freiheitsgeschichte.
Und zwar in zweierlei Hinsicht:

1) Gott schafft die Menschen in Freiheit und beruft sie zur Freiheit – die Freiheit ist so umfassend, dass wir uns auch für das Böse entscheiden können.
Was die Menschen auch sogleich taten und sich gegenseitig ermordeten, was wie-derum zu Gottes Frage führte: Kain, wo ist dein Bruder?
Wir lernen daraus: Mit der Freiheit verbunden ist also die Verantwortung für den anderen.

2) Die Geschichte des Volkes Israels im Alten Testament beginnt so richtig mit dem Auszug aus Ägypten: Lass mein Volk frei, richtet Mose dem Pharao mit schö-nen Grüßen von Gott aus.
Und Gott fasst später zusammen: Ich bin der Herr, Dein Gott, der dich aus Ägyp-tenland aus der Knechtschaft geführt hat.
Nach diesem Satz folgen die Zehn Gebote, die das Zusammenleben regeln.


Auch daraus lernen wir etwas: Auch Freiheit braucht Führung und Regeln. Regeln für den verantwortungsvollen Gebrauch von Freiheit. Absolute Freiheit des Einzel-nen bedroht den anderen, die Gemeinschaft und den Frieden. Und: Frieden ohne Freiheit ist Knechtschaft, auch wenn die Fleischtöpfe in Ägyp-ten noch so voll waren.

II
Wenn also trotz aller unserer Wünsche und Sehnsüchte Krieg Teil der Realität der Welt ist: Wie sollen wir damit umgehen?
Dass es darauf keine leichten, widerspruchsfreien und eindeutigen Antworten gibt, spiegelt sich im Thema dieses Gottesdienstes: „Aufrüsten – Abrüsten – Umrüsten“

Alle drei Möglichkeiten stehen nebeneinander.
Kein Fragezeichen, kein Ausrufezeichen, kein Punkt. Nur Gedankenstriche. Ist alles möglich? Alles wird debattiert.
Aber was ist richtig? Wie soll man entscheiden? Wie handeln? Und was ist der Auftrag der Kirchen und der Christen angesichts dieser Welt?
Je länger der Krieg dauert, um so mehr wird deutlich, dass die Meinungen über die Art und Weise angemessener Unterstützung in unserem Land sehr stark ausei-nander gehen. Auch zwischen vielen Menschen im Westen und im Osten unseres Landes.
Helfen Waffenlieferungen einen Frieden in Freiheit zu gewinnen oder verlängern sie nur ergebnislos den Krieg?
Führen bestimmte Waffenlieferungen zu einer Eskalation und einem globalen Flä-chenbrand? Wer wäre dann für diese Eskalation verantwortlich?
Ist die Unterstützung der Ukraine ein Schritt der europäischen Selbstverteidigung gegen die russische Aggression?

Brauchen wir in dieser ‘Zeitenwende’ eine Aufrüstung und das, was viele früher als „Geist und Logik der Abschreckung“ abgelehnt haben?
Wir als Christinnen und Christen erleben dies in der anhaltenden Debatte um eine möglichst gemeinsame Position in unseren Kirchen.
Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Dieser Glaubenssatz ist unsere gemein-same christliche Überzeugung.
Wie aber verhalten wir uns richtig, angesichts von Tod und Vernichtung in der Uk-raine und den Hilferufen dieses Landes? Oder wie verhalten wir uns wenigstens verantwortbar, wo es kein richtig oder falsch gibt?
Meine Antwort will ich gleich geben. Aber vorher ist mir zentral wichtig:
Uneindeutigkeit, Ambivalenz und Dilemmata sind eine weitere menschliche Reali-tät. Ebenso wie die Sehnsucht nach Eindeutigkeit.
Der Einfachheit halber vergessen wir das gern einmal. Weil wir es uns anders wünschen. Weil es nicht so anstrengend ist. Weil es komfortabel ist.
Wie kann man nun umgehen mit Ambivalenz, mit Uneindeutigkeit, mit Zweifeln, mit Widersprüchen?


Variante 1:
Man kann überfordert die Augen verschließen, die Decke über den Kopf ziehen, in Passivität verfallen und sich nur noch um sich kümmern. Nach mir die Sintflut, nach mir die Nachrichtenflut, nach mir die Flüchtlingsflut, nach mir alles, was mich in meinem Leben stört. Ich kümmere mich um mich und meine Angelegen-heiten. Das ist der direkte Weg in die Gleichgültigkeit.
Variante 2:
Man legt sich auf eine möglichst einfache Antwort fest, erhebt sie zur einzigen Wahrheit und schimpft auf die angeblich Unfähigen, die das nicht erkennen.

Das macht die Welt überschaubar und teilt alle anderen Menschen mit ihren Mei-nungen übersichtlich in genau zwei Schubladen: Wer meine Meinung teilt, ist mein Freund, alle anderen sind meine Feinde. Sie sind mindestens niederzubrül-len.
Das ist der direkte Weg in extreme Haltungen.
Beide Varianten sind verführerisch einfach und bieten eine scheinbare Sicherheit, aber sie werden der Realität nicht gerecht. Beide Varianten verkennen, dass Men-schen nicht nur Individuen, sondern Gemeinschaftswesen sind.
„Wo ist Dein Bruder?“, fragt Gott. Auch uns heute.

Wer die eigene Freiheit verteidigt, bedarf der Unterstützung aller, die jetzt in Frei-heit leben.
Thomas de Maizière

Liebe Schwestern und Brüder,
keiner lebt für sich allein, diskutiert für sich allein, glaubt für sich allein, schafft et-was allein. In jeder und jedem klingen und schwingen die Mitmenschen mit ihren Fragen, Nöten, Freuden und Leiden mit.
Das bedeutet das lateinische Wort personare, „hindurchklingen“, von dem unser Wort „Person“ kommt. Die Person ist auf Gemeinschaft angelegt.
Das bedeutet auch: Ich bin verantwortlich nicht nur für mich, sondern für den an-deren und die Gemeinschaft. Und die anderen, die Gemeinschaft, tragen Verant-wortung auch für mich. Auch wenn es anstrengend ist: Einer trage des anderen Last. Und Freude.
Unsicherheit, Uneinheitlichkeit und Ambivalenz gehören zur Freiheit, die nie eine absolute ist, sondern in der wir immer auch dem anderen begegnen. Nur in der Gemeinschaft der Freien können wir Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten aus-halten und damit umgehen.

Meine Antwort auf die Frage nach der Waffenlieferung will ich Ihnen heute nicht vorenthalten. Es muss nicht Ihre sein:
Wer die eigene Freiheit verteidigt, bedarf der Unterstützung aller, die jetzt in Frei-heit leben.
Zu Recht erwarten die Menschen in der Ukraine die fortwährende Unterstützung ihres Kampfes durch die demokratische Staatenwelt – finanziell, humanitär, wirt-schaftlich – aber auch durch Waffenlieferungen und militärische Kooperationen. Das gilt insbesondere für Europa und uns in Deutschland. Wie genau das dann zu welchem Zeitpunkt aussieht, muss wiederum im Bündnis diskutiert und abgewo-gen werden. Alleingänge sowohl bei den Waffenlieferungen wie auch bei allen diplomatischen Anstrengungen sind für die Ukraine, aber insbesondere auch für unser Land gefährlich.


III
Für unser Zusammenleben ist es nicht entscheidend und nicht einmal wünschens-wert, dass wir alle die gleiche Meinung zu dieser oder in anderen Fragen haben. Das wird ohnehin nicht geschehen. Das ist Demokratie.
Entscheidend ist, gemeinsam zu lernen, mit Ambivalenz umzugehen. Das ist die Variante 3) – zu der ich einladen möchte, also nicht Gleichgültigkeit oder extreme Haltungen.
Dafür braucht es eine besondere Art von „Rüstung“. Ich nenne es mal Zurüstung. Zurüstung als Stärkung zum Hoffen und Handeln.
Entscheidend ist, mit welcher Haltung wir unsere Debatten führen.
Niederbrüllen oder Rückzug und Gleichgültigkeit gehören sicher nicht dazu. Sich eine Meinung zu erarbeiten und diese einzubringen mit Respekt vor der Meinung der anderen, das müssen wir immer wieder einüben. Auch wenn es um Krieg und Frieden geht.
Demokratisch gefasste Entscheidungen sind nötig, manchmal not-wendig und for-dern ihre Durchsetzung.

Aber sie können und sollen erst Recht von der Minderheit, aber auch von der Mehrheit hinterfragt und wieder überprüft werden – auch juristisch – . Das ist in unserer freiheitlichen Demokratie so vorgesehen und ein unermesslicher Schatz.
Entscheidungsträger abkanzeln und für ihre Entscheidungen verachten, das ge-hört nicht zum demokratischen Repertoire. Ebenso wenig eine Geringschätzung der Minderheit.
Dafür braucht es Begegnung der Vielfalt. Wir benötigen dringend offene Dialog-räume, die helfen, unterschiedliche Positionen in unserem Land wahr- und ernst zu nehmen. Talkshows können das nicht ersetzen.
Ein gemeinsames, dem Ernst der Lage angemessenes Ringen um das Notwendige, das ist ein Kraftakt, vielleicht auch manchmal eine Zumutung. Aber nur eine ge-meinsame Verständigung ermöglicht Zusammenhalt. Und diese ist eine starke Waffe im besten Sinne, die wir diktatorischer Aggression entgegensetzen können. Gesellschaftlicher Zusammenhalt einer freien Gesellschaft trotz unterschiedlicher Positionen ist etwas, was Diktatoren nie verstehen werden.
Ihr Friedenstag heute in Chemnitz ist ein solcher Dialog- und Übungsraum. Un-missverständliches Eintreten für Freiheit, Demokratie, Menschlichkeit, gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung aller Art, das halten wir den Verächtern im eigenen Land und den Despoten weltweit entgegen.
Auch der Kirchentag kann und will ein solcher Debattenraum sein. Wir wollen im Juni in Nürnberg die Fragen um Krieg und Frieden, Waffenlieferung und christli-cher Haltung diskutieren, streitig diskutieren. Wir laden ein, diesen Debattenraum in aller Freiheit im Juni in Nürnberg zu nutzen.
Beim guten und klugen, respektvollen Debattieren darf es aber nicht bleiben.
Wir Christen können helfen, die Sehnsucht und Hoffnung auf eine friedlichere Welt in allen schweren Entscheidungen wachzuhalten. Auch wenn es im Moment sogar naiv erscheinen mag.
Wie? In dem wir die Friedensvisionen und Hoffnungsgeschichten der Bibel auf eine friedliche und gerechte Welt wachhalten.

Sie alle kennen diese Geschichten:
- Wolf und Schaf stehen gemeinsam auf der Weide (Jes. 65, 25),
- ein Kind spielt am Loch der Schlange (Jes. 11, 8),
- Schwerter werden zu Pflugscharen (Mi 4,3),
- niemand wird mehr lernen Krieg zu führen (Mi 4,3)
- und jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen (Mi 4,4).
- Und: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein (Off 21, 4).

Und beispielhaft dazu gestellt:
- Einer trage des anderen Last (Gal 6, 2).
- Einer achte den anderen höher als sich selbst (Phil 2,3).
- Euer Ja sein ein Ja und euer Nein sei ein Nein (Mt 5, 37).

Das sind Texte, die auch heute orientieren. Texte, die Mut zum Entscheiden auch im Dilemma geben. Wir brauchen diese – ich nenne es noch einmal – Zurüstung, um Unterschiede aushalten zu können und dennoch den Mut zum Handeln zu fin-den.


Liebe Schwestern und Brüder,
Diese Geschichten ermöglichen uns auch den heiligen Moment des Zögerns und Zweifelns, den heiligen Moment des Innehaltens. Der Sonntag – heute – ist ein Tag des Innehaltens.
Das Vornehmste am Glauben ist das Zweifeln. Auch das wieder eine Ambivalenz. Einmal den Gedanken denken, dass der oder die andere vielleicht doch recht ha-ben könnte. Einmal den Gedanken denken, dass meine Perspektive und Erfahrung nicht die ganze Wahrheit sind.
Dieses Innehalten hilft, dass wir im Meinungsstreit Respekt bewahren. Dieses In-nehalten lässt das Gegenüber leben.
Das Innehalten ist aber kein Ruhekissen, keine Ausrede zum Nichts-tun.
Im Innehalten entsteht auch die Kraft zum Handeln. Die Kraft, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es kein eindeutiges „richtig“ gibt. Wenn die Frage, wie Menschlichkeit und Freiheit zu verteidigen sind, keine einfachen Antworten kennt, aber Taten erfordert.
Und: Das Innehalten verbindet uns mit Christus – dem Einzigen, der fähig ist, dem Mörder am Kreuz neben sich das Paradies zu verheißen. Diese Wahrheit über-steigt meine Vorstellungskraft.
Das Innhalten hält die Hoffnung lebendig, den Mut zum Handeln wach und ver-bindet uns mit dem Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft.


Amen

 

*Es gilt das gesprochene Wort*

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